Samstag, 15. Januar 2011

Josef Z'berg als Schriftsteller (Kt. Uri)




 


 Josef Z'berg (1879-1948)



Mein Grossvater wollte schon immer ein Schriftsteller sein. Das geht aus den zahlreichen Briefen hervor, die in seinem Nachlass gefunden wurden. Er wollte seine drei Kurzromane und viele seiner Kurzgeschichten als Buch herausgeben. Leider ist er immer wieder abgeblitzt bei den Verlägen, die  stets  irgendetwas zu bemängeln hatten. Bei den Zeitungen im Kanton Uri und in Luzern hatte er etwas mehr Glück. Bei diesen konnte er zumindest einige seiner Kurzgeschichten publizieren. Aber sein Ziel, ein Buchautor zu sein, hat er nie erreicht.
Im Jahre 2009 ist nun zum ersten Mal einer seiner Romane publiziert worden, nämlich "DIE BAUERN VON MADERAN".  (Gisler Druck AG, Altdorf)

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Der Roman von Josef Z'berg erzählt vom harten und ärmlichen Los einer Bergbauernfamilie im Maderanertal. Sie lebte von ihrer Ziegenherde, die sich in der schneefreien Zeit auf der Allmend und hoch oben in den Geissweiden ernährte. Im Winter wurde den Tieren das im Laufe des Sommers gesammelte Wildheu verfüttert. Doch dann drohte die Existenz der Familie wegen verschärften forstpolizeilichen Bestimmungen zusammenzubrechen. (Mit einer Einleitung von Historiker Hans Stadler-Planzer, Attinghausen)

Stadtluft


Von Josef Z'berg

1.

An den Bergen verglomm die Sonne. Wolkenlos wölbte sich der Himmel. Aus dem Tale kam die Dämmerung … Margrit, die Tochter des Hirten, stand vor dem Hause. Suchend schaute sie über den Weg und hielt die Hand ans Ohr.
Der Bach rauschte. In das Murmeln des Wildbaches mischte sich ein leises, kaum hörbares … Ju … hu … hu … Das war seine Stimme. Er war noch weit weg, hoch im Gebirge.
Margrit setzte sich und versank in Nachsinnen. Schritte, die sich ihr näherten, hörte sie nicht. Erst als sich eine Hand auf ihre Schulter leg­te, fuhr sie hoch …“Franz“, sagte sie leise.
„Ich bin es, Margrit.“
„Ach Vater, ich wollte sehen …“
„Ob er komme.“
„Ja, es ist schon so spät. Alle sind zurück.“
„Früher war er immer pünktlich. Aber jetzt … ?“
„Ich weiss es, Vater“, sagte die Tochter, ohne ihn ausreden zu lassen. Seit er in der Stadt im Militärdienst war, ist er nicht mehr der Gleiche. Die ganze Zeit redet er von dem schönen Leben in der Stadt. Aber Vater, sei ihm nicht böse, er kann wieder anders werden.“
„Was? Du glaubst es ja selbst nicht“, sagte der Bauer streng. „Die Stadtluft hat ihn verdorben. Schon so mancher aus unseren Bergen ist in der Stadt zugrunde gegangen, weil er unerfahren war. Sie sehen nur den Glanz und die Freuden, aber die Gefahren, die sich hinter diesem Leben verbergen, vermögen sie nicht zu erfassen, bis es zu spät ist. Wenn sie der Teufel einmal im Garn hat, ist es bös, sie ihm zu ent­reissen.“
„Vater“, schluchzte Margrit. „Was gibt dir das Recht, so von Franz zu denken?“
„Bei ihm ist es im Blut, und wer`s im Blut hat, kann nichts dafür. Er kann nicht aus der Haut fahren. Das ist der Fluch, die Sünde der Eltern.“
„Du meinst, weil seine Mutter keine Berglerin war?“
„Frag mich nicht mehr“, sagte der alte Lorenz mit väterlicher Güte. Der Bauer senkte den Kopf.
Sie war das schönste Weib im ganzen Tal gewesen. Ihren Augen konnte keiner widerstehen. Ein verführerisches Lachen spielte um ihre Lippen. Sie kam vom Süden und redete eine andere Sprache. Was sie in Worten nicht auszusprechen vermochte, sagten umso deutlicher ihre Blicke. Das Baschi Leni, dem Franz seine Mutter, war anders als die einheimischen Berglersweiber. Trotz der harten, schweren Arbeit war sie froh und lustig und nahm das Leben leicht. Die Männer standen still und schauten ihr nach, wenn sie am Sonntag in die Kirche ging. Von den Weibern wurde sie gehasst. Sie habe den Teufel in sich und „nehme die Männer nach“, sagten sie.
Und so war es für die Rientaler eine Erleichterung, als an einem Föhntag eine Staublawine die schwarze Leni und den Baschi ins „G`wüscht“ hinunter wischte, wo sie erst im Sommer gefunden wurden.
„Haben wir es nicht gesagt, sie werde ihm kein Glück bringen, diese fremde Hexe! Es ist nicht Blut von unserem Blut. Der Herr gebe ihr die ewige Ruhe“, hiess es nach dem Unglück.
Lorenz wollte nicht mehr länger über das traurige Schicksal seines Bruders nachsinnen. „Komm, es wird kalt“, sagte der Alte zu seiner Tochter. „Er hat den Weg immer wieder heimgefunden, sonst …“
„Vater, sei ihm nicht böse“, bat sie noch einmal.
„Ich habe keinen anderen Wunsch, als dass du glücklich bist.“
Traurig folgte Margrit dem Vater in die Stube. Sie liebte Franz, und sie glaubte auch immer noch an seine Liebe …



2.

Hoch über dem kleinen Bergdörfchen, wo ein schmaler Weg über schroffe Felsen führt, lehnte Franz an einer Tanne. Der Wind fuhr durch seine krausen Haare. Ohne sich zu rühren schaute er über die in Dunkelheit gehüllte Erde. Im Westen war ein grauer Streifen. Immer weiter floh der Tag. Alles war still; nur der Wind rauschte in den Tannen und aus dem Tobel kam das Rauschen des Wildbaches.
Am Ausgang des Tales, wo die Berge in Hügel auslaufen, hob sich ein mattes Hell von der Dunkelheit ab. Dort, wo das Licht in der Nacht verfloss, ruhten seine Blicke. Es war der Schein der Lichter, die zu Tausenden die Stadt erhellten. Dorthin trugen ihn die Gedanken. In die hellen Strassen und die verschwiegenen, schmalen Gassen. Und er glaubte die Töne moderner Tänze zu hören. Und zum Schluss ... ganz zum Schluss ... Schwarze Augen schauten ihn begehrlich an ...
Franz zog ein Bildchen aus der Tasche. Ein Mädchenkopf mit schwarzen, abgeschnittenen Haaren lachte ihn an. Jetzt sah er sie wieder, die lauschigen Plätzchen. Der grosse Park am See, wo die Blätter der Kastanienbäume dem Lampenlicht den Weg versperrten. Unvergesslich und diskret waren die Plauderstündchen im Halbdunkel dieser Riesenbäume. Die engen Gassen mit den Weinstuben. Zwei Treppen unter der Erde das Chinesenstübchen, mit den verschwiegenen, dunklen Nischen. Dort war er immer so gerne gewesen. Der arme, blinde Musiker entlockte dem Klavier süsse, verfängliche Töne; dann wurde es ihm warm ums Herz. Und der süsse Parfümgeruch stieg ihm in die Nase, während das schwarze Mädchen seine Wangen strei­chelte ...
Das war Leben, das war Liebe, nach der sich Franz sehnte. Wie ein Vulkan brannte das Verlangen nach diesem Mädchen in seinem Herzen. Seine Gedanken verloren sich in jener unergründlichen Tiefe, wo die Leidenschaft Körper und Geist verschlingen. Alles hatte ihm dieses Mädchen gegeben, bis er müde den Kopf in ihren Schoss legte. Seine Lippen waren wundgebissen. Und doch, immer und immer kam das Verlangen.
Auf einmal wurde er traurig und er glaubte, weinen zu müssen. Franz drückte das Bildchen an die Lippen, dann steckte er es in die Tasche.
Seit er drunten in der Stadt gewesen war, erschien ihm das Leben in den Bergen rauh und kalt. Nichts erwärmte ihn, oder dann nur für Augenblicke. Margrit! ... Ja, er hatte sie geliebt, mit einer sonderbaren, fast ängstlichen Unschuld. Aber nun war alles anders. Wenn er Margrit an sich drückte und küsste, war es ihm, als würde sie zerbrechen. Schnell erlöschte das Verlangen. Nein, er wollte nicht daran denken, neben ihr zu schlafen. Er fürchtete sich vor ihrer Nackheit. Es marterte ihn etwas. All das Verlangen, die heisse Sehnsucht, die feurige Leiden­schaft, die in seinem Herzen loderte, war wie ein Löwe in einem Zwinger; er rieb sich an den Stäben, aber er wurde nicht frei ...
Diesen Zwang wusste das schwarze Mädchen zu brechen. Die Kette wurde zerrissen. Ungebunden ergoss sich das Leben über den Damm, der den stärksten Trieb in seiner Natürlichkeit zu hemmen suchte.
Noch einmal hielt er den Finger ins Ohr. Ein lautes, mächtiges Ju ... u ... u ... hu ... hu ... widerhallte an den Felsen. Dann ging er mit siche­ren Schritten über den schmalen Felsweg dem Tale zu.



3.

Aus dem kleinen Fenster der Küche fiel das Licht auf den Weg. Auf dem Herd knisterte das Feuer um die Kupferpfanne, die sich auf dem mageren Dreibein blähte. Der Wind, der vom Bach her wehte, trieb den Rauch, der unter den Schindeln hervorkroch, über den Boden.
Margrit stocherte im Feuer. Fragen und Gedanken drängten sich ihr auf, an die sie sonst nie gedacht hatte. Heute standen sie vor ihr und machten sie zum ersten Mal traurig. Warum waren die Menschen in der Stadt anders als sie? Hatte am Ende der Vater doch Recht, dass die Stadtluft Franz verdorben hatte .... ?
Lorenz sass am Tisch. Mit finsterer Miene zerrieb er die Tabakab­schnitte und stopfte die Pfeife. Auf einmal stampfte er mit den schwe­ren Schuhen auf den Boden. Dann lärmte er wie zu sich selbst: „Schä­men muss man sich, wie es heutzutage auf der Welt zugeht. Unsere Jungen sind von den „fremden Fötzeln“ verdorben und vergiftet. Nichts ist ihnen mehr gut genug, Ja, sie schämen sich sogar der eigenen Eltern. Hoffart und Luxus reiten uns zu Tode. Wer einmal in der Stadt war, hat hier kein Bleiben mehr. Aufziehen und abfüttern kann man sie, aber sobald sie einen Rappen verdienen können, machen sie sich aus dem Staub. Grossartig dreinfahren, das gefällt der jungen Wa­re. Herrgott, ist das ein Elend! Röcke tragen die Fratzen wie Spinn­wuppen, man sieht ihnen bis ins „Elend“. Und die Buben, zum Teufel, sind das Muster, man kennt sie fast nicht mehr. Die Hosen ziehen sie im Kuhdreck umher; beide Beine hätten in einem Stoss Platz. Und den Tabak rauchen sie in einem Papier. So ist es, es ist eine Schande. Dar­an gehen wir zugrunde. Der Fratz ist auch schon angesteckt.“
„Was bin ich?“ keuchte Franz, der die Türe aufgerissen hatte und in die Küche polterte.
„Um kein Haar besser als die anderen“, sagte Lorenz immer noch er­regt. „Wo bist du eigentlich so lange gewesen?“
„Verirrt hab ich mich. Es ist nicht das erste Mal.“
„Wir hatten Angst um dich“, wandte sich Margrit schüchtern an Franz. „Nur einmal hörte ich dich jauchzen; du warst noch hoch oben.“
„Hast du Hunger?“ fragte der Vater.
„Nein! ... Margrit, gib mir Wasser.“
„Was ist mit dir?“ fuhr ihn der Alte wieder an und rückte auf dem Stuhl hin und her.
„Vater!“ bat die Tochter. „Er ist müde, am liebsten geht er schlafen.
„Nein, ich finde keinen Schlaf. Träume plagen mich.“
„Schon lange hab ich gemerkt, dass etwas in dich gefahren ist, dem du nicht mehr Meister wirst“, bemerkte Lorenz neckisch.
„Vater, du bist aufgeregt“, flehte Margrit. „Komm, wir wollen schlafen gehen; bis Morgen ist alles wieder gut.“
„Hab keine Angst, einmal muss es doch gesagt sein.“
„Heraus mit der Sprache“, sagte Franz herausfordernd. „Ein kleines Donnerwetter bringt mich nicht aus der Fassung. Ich hab schon anderes erlebt. Mehr als einmal habe ich dem Tod in die Augen ge­schaut.“
„Nimm dir das Maul nicht zu voll, Bub, bis heute hattest du dich nicht zu beklagen. Es ist nicht schön von dir, dass du den Kopf so auf­rührst. Wo wärest du heute, wenn ...“
„Was glaubst du denn? Bist du eigentlich blind? Nichts habe ich als das nackte Leben, und dafür soll ich noch danken?“
Lorenz senkte den Kopf und legte die Tabakpfeife auf den Tisch. Der letzte Rest seiner Hoffnung war vernichtet. Er würgte den Zorn hinun­ter. Dieser junge Mensch, der ihm Dank schuldig wäre, lehnte sich gegen ihn auf. Das tat ihm weh. Traurig schaute der Bauer nach seiner Tochter, die eine Träne abwischte.
Alt und grau war er geworden in der wilden Bergwelt. Aber bis heute war er zufrieden gewesen. Nie beklagte er sich über die harte Arbeit, und das schlichte Essen schmeckte seinem hungrigen Gaumen. Wenn er auch nicht viel sein Eigen nannte, so war er doch ein freier Mann, und auf das war er stolz. Er trieb seine Geissen auf die Weide wo und wann er wollte. Und im Herbst ging er auf alle „Grät“ auf die Jagd. An den steilen Halden und Flühen des Bristen sammelte er das Wildheu. Auf jedem „Dossen“ stand eine Triste. In dem alten Wald am Anfang des Etzlitales schlug er das Holz für den Winter. Zuhinterst im Tal, wo der kleine, dunkelgrüne Bergsee zwischen mächtigen Granitblöcken vom Gletscherwind gefächelt wird, blühte der Enzian. Die Wurzeln sammelte Lorenz und brannte einen Schnaps, so mild wie Milch. Er, der alte, graue Bergbauer konnte es nicht verstehen, dass so viele Junge das Leben in den Bergen nicht mehr liebten. Dass Franz zu diesen gehörte, tat ihm weh, und er fragte sich, wie er das verdient habe. Sollte er es noch einmal mit Güte versuchen? Aber wieder kam ihm der Gedanke und trübte das bisschen Hoffnung: „Er hat`s halt im Blut.“
Traurig hob er den Kopf und schaute mit dem milden Blick eines fürsorglichen Vaters in die schwarzen Augen des von Kraft strotzenden Jünglings. Mit mahnender Stimme wandte er sich an Franz.
„Als deine Eltern in der Lawine ums Leben kamen, nahm ich dich zu mir. Ich sorgte für dich wie für mein eigenes Kind. Dein frohes, wildes Wesen machte mir Freude. Du warst mein Stolz.“ Der Alte stotterte. Margrit hielt die Hand vors Gesicht.. „Margrit liebt dich. Haus und Heim gebe ich dir. Wenn es auch nicht viel ist; wo der Segen Gottes ist, reicht auch das Wenige.“
Franz stand auf und ging in der Küche hin und her. „Nein, es geht nicht“, sagte er und biss auf die Zähne. „Keinen Tag bleibe ich mehr hier. Ich muss in die Stadt; dort ist es eine Freude zu leben. Hier in diesen öden Felsen müssen wir uns Tag für Tag abschinden für das elende, lumpige Essen. Keine Stunde sind wir vor dem Tode sicher. Das nennt man Leben? Dafür soll ich noch danken? Nein, von diesem Elend habe ich genug.“
„Aber Franz, du liebtest doch die Berge“, fiel ihm Margrit ins Wort. „Und war das Leben nicht schön, wenn du und ich in der Frische des Morgens durch Schluchten und Wälder der täglichen Arbeit nach­gingen? Das Bimmeln der Glocken der weidenden Kühe tönte durch die Stille. Die Ziegen liefen uns nach bis unter die Gletscher, die tief­blau über die schwarzen Felsen herabhängen. Schäumend und tosend, wie die Kraft eines gesunden Volkes, stürzte das Gletscherwasser durch das wilde Tobel dem Tale zu. Unsere Augen tranken sich satt an der unvergänglichen Pracht dieser Schönheit. Die erhabene Stille hob uns aus dem Staube der Vergänglichkeit. Wir waren glücklich. Und heute soll dies alles vergessen sein?“
„Was ist das gegenüber dem schwarzen Elend, das uns täglich angrinst? Sklaven sind wir, von aller Welt verachtet und gehasst“, schrie Franz zornig. „Dass ihr es wisst, Morgen gehe ich in die Stadt. Nie­mand kann mich zurückhalten.“
„Wenn du es nur nie bereuen musst“, sagte der Bauer mahnend. Müde und zerschlagen wie nach einer schweren Krankheit erhob sich Lorenz. Nun war er um all seine Hoffnungen betrogen. In der Stube tauchte er zwei Finger ins Weihwasser; einige Tropfen fielen zu Boden. Leise sagte er: „Es tröste und erlöse sie Gott!“
Margrit schaute ihm nach und weinte ...



4.

Der Wind peitschte den Regen über den schwarzen Asphalt. Die Lampen über den Strassen schaukelten hin und her und warfen Bilder in das schmutzige Wasser. In das Klingeln der Strassenbahn mischte sich das Hupen der Autos, deren Scheinwerfer wie Feuerzungen die Dunkelheit absuchten. Feierabend! Alles drängte vorwärts. Rechts, links, niemand schien am rechten Ort zu sein.
„Sie Rhinozeros, treten Sie mir nicht auf die Füsse“, lärmte der alte Dienstmann und nahm die Koffer in die andere Hand.
Beschämt blieb Franz stehen. „Ist das ein frecher Mensch“, dachte er. Suchend blickte er durch die Menge. Er kam sich verlassen vor. Würde sie ihn erkennen? Damals trug er die Uniform. Menzi liebte das graue Tuch! Jeder Soldat kannte das schwarze Mädchen. Aber keiner liebte sie so wie Franz. Das war Leben, das war Liebe. Von weit her würde er sie erkennen. Die schwarzen Augen, der feurige Blick, der sich wie glühendes Eisen in die Sinne frass. Wo sie wohnte wusste er nicht. Er wusste nur, dass sie nie lange im gleichen Logis war. Immer hatte sie etwas auszusetzen. Die Menschen waren so kleinlich und missgönnten einem schlechtentlöhnten Warenhausmädchen jede Freu­de.
Franz bog in eine Seitengasse. Dort stand das grosse weisse Gebäu­de, in dem Menzi arbeitete. Das schwere Eisentor war geschlossen. Menschenleer und verlassen ragte das grosse Haus in die finstere Nacht. Traurig schaute Franz über die kahlen Wände. Er war zu spät ...
Der Regen schlug ihm ins Gesicht. Einen Augenblick überlegte er, dann schlug er den Weg nach der engen Gasse ein, wo, jeder Tages­helle beraubt, tief unter der Erde das Chinesenstübchen war ... Dort wollte er sie suchen.
Alles war wie früher. Das gedämpfte rote Licht. Die verschwiegenen, lauschigen Nischen. Der blinde Musiker, der während der Pausen die Hände auf die Knie legte. Wie eine Statue verharrte er so, bis er die Finger wieder auf die Tasten legte. Auch beim Spielen war seine Haltung höchst sonderbar. Er legte den Kopf leicht in den Nacken, dann war es, als holte er die Töne aus den Lüften. Gleich dem Sum­men müder Bienen verklang die Musik.
Franz ging von Nische zu Nische und schaute in die Gesichter, die im Schein des roten Lichtes in Freude erstrahlten. Menzi war nicht da. An einem kleinen Tisch neben der Türe nahm er Platz. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Schweiss stand auf seiner Stirne. Er hörte nichts von der Musik und achtete kaum auf die Pärchen, die sich an­einander schmiegten. Das Verlangen nach dem schwarzen Mädchen beherrschte sein ganzes Denken.
Wie abwesend schaute er nach dem Eingang. Wenn die Türe auf­ging, erschrak er leicht. Stunden vergingen. Gäste kamen und gingen. Der Musiker klappte den Klavierdeckel zu und tastete nach dem Aus­gang. Franz trank das Glas leer und lief auf die Strasse. Der Regen hatte nachgelassen. Schatten tauchten auf und verschwanden. Schritte verhallten. Das frohe Leben war verstummt, öd und schwarz grinste ihn die enge Gasse an. Er floh aus der Dunkelheit. Wo würde er sie finden, die schwarzen Augen, nach denen er sich so sehnte ...?



5.

Träge schlich das schmutzige Wasser an den Fabrikmauern entlang. Da und dort sog eine Öffnung ein Loch in das nasse Element und wir­belte die träge Masse schäumend durcheinander. Ein kühler Wind wehte den schwarzen Rauch, der den Schloten entstieg, gegen das graue Industriequartier. Kinderlärm mischte sich in das Zischen und Surren der Maschinen. In den Gassen roch es nach Elend und feuchter Luft. Bleiche Kinder spielten auf dem zerlöcherten Pflaster. Schmutzig und zerrissen hingen ihnen die Kleider an den mageren Körpern. Mit den grossen Holzschuhen, in denen ihre schmalen Füsse steckten, schlugen sie Konservendosen von einer Wand an die andere. „Goal, Goal ... vier zu zwei, die Roten haben gewonnen ...“ So ging es bis in die Nacht. Die Eltern arbeiteten in der Chemischen. Die Kinder waren den ganzen Tag allein. Nur einige bleiche, alte Mütterchen schauten hin und wieder durch die schmutzigen Fenster auf die Gasse.
Die Kleinen spielten auf dem grossen Sandhaufen, der für die Aus­besserung der Strasse bestimmt war. Halbnackt rutschten sie über den kleinen Berg aus Sand. Oder sie gruben sich bis unter die Arme ein. Manchmal machten sie Löcher in den Sandhaufen, in die sie ihre Not­durft verrichteten; Knaben und Mädchen nebeneinander. Wenn der alte Strassenknecht kam, liefen sie davon und machten ihm eine lange Na­se. Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen. Ratten, deren Fell aussah, als wären sie von Motten zerfressen, glotzten mit grossen Augen aus den Ablauflöchern, huschten über die Strasse und zogen ein faules Stück in den schmutzigen Schacht.
Manchmal gab es Streit unter den Kindern. Oft kam es sogar zu blu­tigen Schlachten. Dann kam der halbblinde Quartiermeister mit dem langen Schnurrbart und der grossen, roten Nase. Lärmend sprangen dann die Kinder in die finsteren Hausgänge. Mit drohenden Fäusten ging der Polizist die Gasse auf und ab und fluchte über die traurige Jugend und die schlechte Erziehung. Unten, wo die Gasse eng ausläuft und ein schmaler Tunnel wie in eine andere Welt führt, öffnete er eine Türe, über der ein Schild mit einem weissen Lämmlein hing.
„Guten Tag, Herr Wachtmeister!“ tönte es von allen Tischen, wenn der Hüter der Gesetze in das raucherfüllte Lokal trat. Wie ein König wurde er begrüsst, denn von ihm hing das Ansehen der Anwohner in der engen Gasse ab. Das „Lämmlein“ war die einzige Wirtschaft in der Gasse. Beim warmen Kaffeegeruch wurden die Vorkommnisse bespro­chen und die Menschen nach Wert und Gewicht eingeteilt. Der Wacht­meister war kein strenger Richter. Er kannte das harte Los der Arbeiter und stiess sich nicht an den rohen Manieren. Gerne trank er einen Be­cher, der ihm von sauerverdienten Batzen bezahlt wurde. Und es tat ihm wohl, wenn er gelobt wurde. Dann fühlte er sich als der mächtigs­te Mann der Stadt.
Die dicke Wirtin schmeichelte ihm, und die kleine runde Liesel, die Kellnerin, liess sich von ihm kneifen und presste ihre runden Beine an seine knochigen Knie. Dann konnte er lachen und seine Augen glänz­ten. Im „Lämmlein“ hielt man auf Ordnung; das wurde vom Wacht­meister immer betont. Dort gab es kein Hinterstübchen, um sich den neugierigen Blicken zu entziehen. Seite an Seite sassen die Gäste in dem niederen, raucherfüllten Lokal. Man gab sich wie man war, ohne Aufmachung; man lachte und scherzte oder fluchte über die traurigen Zustände und die lumpige Regierung. Dieses Recht liessen sie sich nicht nehmen; man lebte in einem freien Staat, in einer Demokratie, da war das Schimpfen noch erlaubt, und das war schön. Auch der Ärmste war stolz auf diese Freiheit, selbst wenn er das ganze Jahr fluchte. Ohne Fluchen wäre die Demokratie undenkbar. Schwielige Arbei­terhände schlugen auf die Tische, dass die Gläser umfielen. Das Volk wollte seine Rechte haben und wenn es auch nur in einer raucherfüll­ten Wirtschaft war.
Am Morgen, wenn der erste Sirenenschrei wie die Klage einer ge­quälten Seele durch die Stille fuhr, kamen die bleichen, vergrämten Männer und tranken einen Schnaps. Tagsüber hatte das „Lämmlein“ wenig Besuch. Erst am Abend, wenn das Surren der Maschinen und das Klatschen der Treibriemen verstummte, krächzte der alte Phono­graph eine frohe Melodie vom Stocker Sepp. Dann wurde das „Lämm­lein“ der Zufluchtsort der müden Arbeiter; sie wollten für einige Stunden das harte Schicksal vergessen.
Hier in dieser Gasse wohnte Menzi. Noch an keinem Ort hatte es ihr so gut gefallen. Niemand kümmerte sich um sie. Sie bezahlte die Miete; dafür durfte sie kommen und gehen, wann und wohin sie wollte.

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In dem kleinen Dachkämmerlein wurde die Türe aufgerissen. „Salü Menzi!“ sagte das Mädchen, das in die Kammer trat.
„Nimm Platz“, bat Menzi und schob die Freundin auf den alten Di­wan.
„Weisst du das Neueste?“
„Nichts weiss ich. Zum Teufel, wird das Leben langweilig“, ereiferte sich Menzi.
„Unser Prinzipal hat sich mit der Mia Pol verlobt. Die hat Glück. So eine arme Tänzerin ... , bekommt einen Millionär.“
„Den möchte ich noch lange nicht“, bemerkte Menzi abschätzig.
„Die wird den Rank schon finden, sie müsste sonst keine Schauspiele­rin sein“, lachte Rösi.
„Wo gehen wir hin?“ fragte Menzi.
„Im Hirschen hat der Fussballklub Abendunterhaltung. Der Sport­klub ist im Pfauen und bei „Chez Fritz“ ist auch Tanz.“
„Und im Chinesenstübchen?“
Menzi drückte den kleinen runden Hut tief über die Ohren, dann ver­liessen sie lachend die Kammer.
In den Restaurants und Tanzlokalen wogte das Leben wie die Brandung des Meeres. Rösi und Menzi waren die vielumworbenen Tänzerinnen im Pfauen. Ihre Blicke bohrten sich in die Pupillen der Tänzer. Keiner konnte ihnen widerstehen. Leicht wie der Wind nahmen sie das Leben. Warum denn nicht? Am Tag waren sie die ge­plagten Warenhausmädchen. Der Abend und die Nacht gehörte ihnen. Sie wollten dies geniessen, solange sie jung waren, das Feuer in ihnen brannte und die Lippen nach Liebe lechzten. Bis zum Morgengrauen dauerte das Tanzen und Flirten ...



6.

In dem kleinen Gasthaus Zum Falken, das an einer schattigen Fels­wand steht, lehnte Franz am Fenster und schaute in den trüben Morgen. Nebel strich über die Strassen, in denen das Leben langsam erwachte. Die erste Nacht in der Fremde war vorbei. Franz griff in die Taschen. Die Wirklichkeit erwachte. Das Geld reichte nur für einige Tage. Und dann ... ? Arbeiten wollte er. Starke Arme konnte man in der Stadt immer brauchen. Mit dem Verlangen nach Arbeit trat er hin­aus in den grauen Tag.
Müde kam Franz am Nachmittag in das Industriequartier. Verwetterte Gebäude ragten wie todbringende Felsen in die Luft. Langsam, als hätte er die Last von tausend müden Körpern aufgesogen, stieg der schwarze Rauch aus den Schloten und lagerte wie gefahr­drohende Gewitterwolken über den Häusern. Auf allem lastete eine er­drückende Schwere, als wären diese öden Gebäude die Geburtsstätten von Not und Kummer ...
Wie klagende Stimmen surrten die Maschinen und zwischenhinein tönten die dumpfen Schläge der wuchtigen Hämmer, als wollten sie die Seufzer mit Gewalt zum Schweigen bringen. Franz ging an den kahlen Mauern entlang.
Furchtlos war er in den Bergen über die schmalen Wege gegangen, an Felsen entlang, wo tief unten der Wildbach rauschte. Weder Glet­scherspalten noch Abgründe machten ihm Angst. Mit ruhigem Fusse verfolgte er die Gämsen. Jauchzend stieg er auf die höchsten Berge, ohne Furcht. Aber dieses verwetterte Riesengebäude und das fortwäh­rende Kreischen und Stöhnen der Maschinen erschreckten ihn ...
Nach langem Zögern trat er durch ein schwarzes, breites Portal, das ihn wie ein unersättliches Raubtier verschlang. Ein scharfer Geruch stieg ihm in die Nase und trieb ihm das Wasser in die Augen. Von einem bleichen jungen Mann wurde er in einen Seitengang verwiesen. Mit einigen Schritten stand er vor dem Bureau: „Anstellungschef“.
Franz zog den Rock zurecht, dann fuhr er mit der Hand durch die Haare, klopfte an die Türe und drückte die Klinke.
Ein unfreundlicher, dunkler Raum nahm ihn auf. Das Zimmer war in zwei Teile getrennt. Der Vorraum nicht breiter als ein schmaler Gang. Neben der Türe stand eine alte Bank, und an der Wand hingen einige krumme Haken. Auf einer meterhohen Holzbrüstung war ein Draht­geflecht, das bis in die Hälfte der Zimmerhöhe reichte. In diesem käfig­ähnlichen Raum sass ein grauer Herr und blätterte in einem dicken Buch.
„Was wünschen Sie?“ fragte der Alte mürrisch und rückte die Brille zurecht.
„Arbeit“, gab Franz schüchtern zur Antwort.
„Woher sind Sie und was haben Sie gearbeitet?“ fuhr ihn der Chef an.
„Ich bin von Arni. Mein Onkel hat dort ein kleines Heimwesen ...“
„So, und nun wollen Sie in die Fabrik?“ unterbrach ihn der Alte.
Der gesunde, starke Jüngling gefiel dem Chef. Solche kommen nicht jeden Tag, dachte er. Der Alte richtete noch einige Fragen an Franz. Als er die Personalien notiert hatte, übergab er ihm einen Zettel. „Melden Sie sich Morgen um halb sieben beim Werkführer Knorp“, sagte der Chef in befehlendem Ton. „Den Zettel geben Sie ab und tun, was er ihnen befielt. Haben Sie verstanden?“
„Ja“, sagte Franz mit zitternder Stimme. Auf der Strasse atmete er erleichtert auf. Nun hatte er das Ärgste überstanden. Er hatte Arbeit. Und doch, es lastete etwas Drückendes auf seinem Herzen. Er wurde nicht froh. Traurig schaute er an der kahlen Mauer der Fabrik entlang. Schwarz strich der Rauch über die Dächer ...
Nachsinnend schlenderte er dem Fluss entlang. Als er in die belebten Strasssen der Stadt kam, wurden die Lichter angezündet.
Ting ... tang ... bu .. u .. m ... verkündeten die Glocken vom Münster die siebte Abendstunde. Rollläden wurden heruntergelassen und Türen geschlossen. Geschäftsschluss! Hunderte drängten aus dem Eingang des Warenhauses und ergossen sich wie ein Strom über die Strasse. Franz stand neben dem Portal. Ein einziger Gedanke hielt ihn gefangen. Die schwarzen Augen und der lachende Mund. Wie Feuer fuhr es durch seinen Körper.
Plötzlich stand das Mädchen vor ihm. Franz streckte ihm die Hand entgegen. Erstaunt schaute ihn Menzi an, ohne die dargebotene Hand zu ergreifen.
„Kennst du mich nicht mehr?“ fragte Franz lachend.
„Was, du bist es ..., Franz?“ Unruhig wie ein Wurm, den man getre­ten hat, wand sich Menzi vor dem jungen Mann, bis sie nach seiner Hand griff.
„Ich hatte solches Verlangen nach dir. Ich hielt es nicht mehr aus in den Bergen. Ich musste dich wieder sehen.“
„Was du nicht sagst! Aber, was willst du nun?“
„Arbeiten will ich hier, damit ich immer bei dir sein kann ... Hast du auch an mich gedacht? Du, ich bin froh, dass ich hier bin. In den Bergen hat man nichts vom Leben. Für das elende Essen muss man sich krumm schaffen.“
„Du hast Recht, man muss das Leben geniessen, solange man jung ist. Was haben wir von der Ewigkeit ...? So, du bleibst also hier, das freut mich“, sagte das Mädchen mit einem erzwungenen Lachen und drehte sich um.
„Wo gehen wir hin?“ fragte Franz und nahm Menzi beim Arm. Leidenschaftlich schaute er in ihre schwarzen Augen. Und es wurde ihm wieder heiss ums Herz.
Das Mädchen zögerte. Unschlüssig wandte sie sich hier- und dorthin. Menzi hatte sich dem Rennfahrer Conti versprochen. Von diesem ge­schwätzigen Südländer war sie begeistert. Sport war das Höchste.
Franz zog Menzi an sich. „Du“, sagte er leise. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Auf seinem Gesicht prägte sich ein furchtbarer Schmerz aus. „Warum willst du nicht?“ fragte er ungeduldig.
„Ich sollte mit dem Rösi ins Theater.“
„Aber nachher kommst du doch? Es bleibt uns dann immer noch ein liebes Stündlein.“
„Was ..., nachher? Du lieber Himmel, was kommt dir eigentlich in den Sinn? Ich glaube, du bist nicht mehr recht bei Trost!“
„Du, haben wir uns früher nicht auch zu später Stunde getroffen?“ sagte Franz vorwurfsvoll.
Der wilde, aufgeregte Blick traf Menzi. Das Mädchen getraute sich nicht, ihn abzuweisen, denn er würde ihr durch Gassen und Strassen nachlaufen wie ein Wahnsinniger. Ja, er würde sie verfolgen bis auf ihr Zimmer. Dem wollte sie sich nicht aussetzen.
„Also gut, warte mir in einer Stunde am alten Markt“, sagte sie und senkte den Kopf. „Auf Wiedersehen in einer Stunde!“ rief sie und verschwand in einer Nebengasse. Franz schaute ihr traurig nach ...

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„Auf mich kannst du dich verlassen“, sagte Rösi erregt zu Menzi. „Oder glaubst du, ich sei auf den Kopf gefallen?“
„Du weisst doch, dass ich Conti den Abend versprochen habe. Da kommt ausgerechnet heute dieser Bauer. Du kennst Franz, seine Leidenschaft ist unberechenbar. Ich konnte nicht anders.“
„Du brauchst keine Angst zu haben, die Sache wird schon recht her­auskommen. Du gehst mit Franz ins Chinesenstübchen, und ich mache mit Conti einen Bummel ins Mohrental. Geld hat der arme Teufel ja keines mehr. Er hat gestern den letzten Rappen ausgegeben, und es fällt mir nicht ein, ihn heute wieder frei zu halten. Also, bist du einver­standen?“
“Selbstverständlich!“ lachte Menzi. „Du sagst Conti, ich sei krank.“
„Viel Vergnügen mit dem Bauer“, neckte Rösi. Die Türen fielen ins Schloss. Die Mädchen rannten die Treppe hinunter.
Um die verabredete Zeit trafen sich Franz und Menzi am alten Markt. „Hast lange gewartet?“ fragte Menzi und drehte sich um, als wollte sie eine Last abschütteln. In solchen Gebärden zeigte sich das Aufgewühlte, das Unbeständige ihrer Seele.
„Das Warten deucht uns immer lange. Gehen wir spazieren?“ fragte er in bittendem Ton. Der Abend war angenehm. Der Nebel hatte sich verzogen. Ein lauer Wind wehte von Süden. Franz dachte an den Park am See, dort möchte er eine Stunde mit Menzi plaudern, das Mädchen an die Brust drücken und die weichen Lippen küssen. Franz malte sich alles so schön aus.
„Franz, ich bin zu müde. Ich mag nicht laufen. Wir nehmen das Tram und fahren bis Burg, dann gehen wir ins Chinesenstübchen. Du warst immer so gerne dort“, schmeichelte sie und drückte sich fest an seine Seite.
„Die frische Luft würde dir sicher auch gut tun“, müdete Franz. Er dachte an die paar Franken, die er noch hatte. Was sollte er nachher machen?
„Du kannst zufrieden sein, dass ich gekommen bin. Ein anderes Mädchen wäre ins Bett gegangen“, fuhr ihn Menzi gebieterisch an. „Du hast keine Ahnung, wie streng wir es haben.“ Ohne Franz eines Blickes zu würdigen, lief Menzi auf die Strassenbahn zu, die angefah­ren kam.
Wie von einem Magneten angezogen, folgte Franz dem Mädchen. Im Chinesenstübchen waren nur wenige Gäste. Bald hatten sie sich in einer Nische heimisch gemacht. Die Töne, die der blinde Pianist dem Klavier entlockte, klangen wie unvergessliche Träume und zogen die Menschen ins Reich der Phantasie. Franz war voll Seligkeit. Das schwarzäugige Mädchen kühlte sein heisses Verlangen. Die Süsse der Liebe beherrschte sein ganzes Sinnen.
Berge und Schluchten, der alte Lorenz und auch Margrit, das stille Mädchen, waren vergessen. Nur dann und wann, wenn der Blinde die Hände auf die Knie legte und die Klänge verstummten, kam ihm das kahle und hässliche Gebäude in den Sinn, und er glaubte das Surren der Maschinen zu hören. Aber diese Gedanken waren bald ver­scheucht. Mit feurigen Blicken schmiegte sich Menzi immer fester an ihn. Das Leben war schön. Wenn die Gläser leer waren, klingelte Menzi. Sie liebte den süssen Wein. Ihre Wangen wurden röter, und die Augen glänzten begehrlich. Schnell vergingen die Stunden.
Gähnend erhob sich die dicke Wirtin, die hinter dem Buffet einge­schlafen war. „Feierabend“, sagte sie mit müder Stimme.
Wie im Traum verliessen Franz und Menzi das unterirdische Lokal. Die Strassen waren leer. Der Wind hatte nachgelassen. Über den Dä­chern sah man Sterne. Die beiden schmiegten sich fest aneinander. In der dunklen Gasse blieben sie stehen. Franz schlang den Arm um den Hals des Mädchens. Menzi liess ihn gewähren.
„Wann sehen wir uns wieder?“ fragte er.
„Warte mir einmal an einem Abend, aber nicht vor dem Geschäft. Am alten Markt, wie heute. Sagen wir ..., in einer Woche.“
„So lange soll ich warten?“ sagte Franz traurig. „Das glaubst du ja selbst nicht.“
„Sei nicht so dumm! Oder glaubst du etwa, ich renne dir davon? Gute Nacht!“
Die Türe knarrte. Franz stand allein in der finsteren Gasse. Der Kopf schmerzte ihn.


7.

Grau senkte sich der Abend über die Bergwelt. Wie riesige Greisen­häupter hoben sich die Gletscher von der Dämmerung ab. Mit dem Herannahen der Nacht drängt sich in den Bergen den Menschen ein sonderbares Gefühl auf. Es schleicht sich etwas nach dem Herzen, wie das Heimweh nach etwas Grossem, Unbekanntem. Eine stille Sehn­sucht ergreift die Menschen ...
Margrit stand am Fenster und schaute nach den Bergen, über denen einige Sterne leuchteten. Dann und wann tönte der schwache Klang einer Kuhglocke an ihre Ohren, der sich bald im Rauschen des Baches verlor. Auch in ihrem Herzen regte sich die Sehnsucht und machte sie traurig. Aber sie suchte den Schmerz zu verbergen, um dem Vater nicht noch mehr Sorgen zu bereiten.
Franz bildete in dem kleinen Bergdorf immer noch das Tagesge­spräch. Die Leute wollten es nicht fassen, dass er das übers Herz ge­bracht hatte und dem alten Lorenz davongelaufen war. Es sei eine Schande, und es werde ihm kein Glück bringen. Er habe es nur zu schön gehabt. Auch die Margrit habe das nicht verdient. Undank sei der Welt Lohn ...
Über dem Tisch brannte die kleine Petrollampe. In der Ecke unter dem Kruzifix sass der alte Lorenz. Gemächlich zog er an der Pfeife und schaute den kleinen Wölklein nach, die er aus dem Munde blies. Am Abend nach der harten Arbeit kamen sie wieder, die Gedanken, die ihn traurig machten. Er konnte es nicht vergessen, was ihm Franz angetan hatte.
Die Enttäuschung trübte sein frohes, zufriedenes Wesen. Es war nicht Zorn, was in seinem Herzen aufstieg. Traurig schaute er nach der Tochter. Wie hatten sie das verdient ...?
Vom Kirchlein verkündete das kleine Glöcklein das Ende des Tages. Betglocken! Margrit faltete die Hände. „Bitt für uns arme Sünder.“ Sie hatte ihm vergeben. Ihr Herz gehörte ihm allein. Mögen die Leute über ihn reden, was sie wollen! Wenn es Gott will, so wird er den Weg wieder zu ihr finden. Und sie wird ihm treu bleiben. Einige Monate in der Stadt zu sein, wird ihm sicher nicht schaden. Er würde das Leben in den Bergen wieder mehr schätzen und lieben. Ja, wenn nur die Mäd­chen in der Stadt nicht so leichtsinnig wären! Das gab ihr zu denken. Aber vielleicht war auch nicht alles wahr, was von den Mädchen in der Stadt geredet wurde.
Lorenz legte die Pfeife auf den Tisch. „Musst nicht traurig sein, Margrit!“ sagte er tröstend. „Es kommt alles, wie es muss. Dem Schicksal kann man nicht entgehen.“
„Vater, uns trifft keine Schuld, und das ist ein schöner Trost. Mehr konnten wir nicht für ihn tun.“
„Wir müssen vergessen. Solange ich gesund bin, geht es schon. Die Arbeit hilft uns über vieles hinweg. Und wenn ich einmal ...“
„Vater, du darfst nicht so reden!“ wandte Margrit ein und schaute ihn bittend an. „Franz kann ja wieder zu uns kommen. Oder hast du gar keine Hoffnung?“
„Vielleicht ist es besser so. Oder wäre es nicht viel trauriger, wenn sie ihn einmal tot ins Haus gebracht hätten? Die Berge haben schon viele Opfer gefordert.“
„Und die Stadt?“ fragte sie tiefatmend.
„Das ist der Unterschied, die einen gehen körperlich und die andern seelisch zugrunde. Aber eines musst du nicht vergessen, es gibt überall gute und böse Menschen, auch in der Stadt. Eines ist schade, dass sich Stadt- und Landbevölkerung nicht besser verstehen. - Weil wir nicht so geschliffene Mäuler haben, halten sie uns für dumm. Aber das Dümmste ist, dass wir glauben, wir müssten die Manieren der Städtler nachäffen; daran gehen wir zugrunde. Wenn der Franz wieder kommt, so ist ihm das Haus zu jeder Zeit offen. Es ist schade um ihn. Er hatt`s halt im Blut ...“
„Das freut mich, Vater, dass du ihm nicht böse bist. Der Herrgott wird ihn schon wieder auf den rechten Weg führen,“
„Ja, wir wollen es dem Herrgott überlassen“, sagte der Vater und nickte. „Am besten ist es, wir gehen schlafen. Morgen gibt es einen strengen Tag. Der Förster kommt. Das Teilholz wird gezeichnet. Es ist eine harte Arbeit, den ganzen Tag in den Felsen herumzuklettern.“
„Musst du dabei sein?“ fragte Margrit teilnahmsvoll.
„Jede Familie ist verpflichtet, einen Mann zu stellen.“
„Ich habe immer so Angst, wenn du in den Tschingel musst. Dort sind die drei Brüder Jauch ums Leben gekommen. Die verwetterten Kreuze erinnern uns heute noch an das furchtbare Unglück.“
„Hab keine Angst, Margrit! Dem Tode kann man nicht entrinnen.“ Lorenz stand auf und ging ans Fenster. „Das Wetter ist gut, und das ist die Hauptsache“, meinte der Alte und schloss das Fenster. „Gute Nacht!“
„Gute Nacht, Vater“ erwiderte Margrit den Gruss und ging in die Kammer. Droben machte sie das kleine Fenster auf und schaute nach den Sternen. Ein kühler Wind wehte vom Bach her. „Wird er auch nach den Sternen sehen und an mich denken?“ fragte sie sich. „Wie schön war es, wenn wir am Abend zusammen plauderten. Wir freuten uns über die geleistete Arbeit. Dann kam der Winter und mit ihm die langen Abende. Der Vater erzählte uns aus alten Zeiten. Hin und wieder kam der Nachbar, oder wir gingen zu ihm. Die harte Arbeit war vergessen.“ All das kam ihr in den Sinn. Sie sah die Sterne nicht mehr und hörte den Bach nicht mehr rauschen. Die Sehnsucht kam über sie. Tränen rannen über ihre Wangen, und auch in ihrem Herzen wurde es finster ...


8.

Kein Sonnenstrahl verlor sich in den Raum, in dem Franz die abge­füllten Säcke auf den Aufzug trug. Wie Mücken tanzten die Staubkör­ner um die elektrischen Lampen. Die Arbeit war eintönig und für ihn ungewohnt. Hundert und aberhundert Mal machte er den gleichen Weg. Und immer tanzte der Staub um die Lampen. Die Riemen klatschten und die Räder kreischten. Wie Todfeinde liefen die Arbeiter aneinander vorbei. Heisere Stimmen, und dann und wann ein dumpfer Fluch. Die Zeit wollte nicht vom Fleck. Es war, als hätten sich die Stunden im Räderwerk der Maschinen festgefressen. Und die Müdig­keit hängte sich wie Blei an seine Glieder. Schweiss rann über sein Gesicht und grub Furchen in den Staub, der seine Wangen immer mehr bedeckte. Mit jedem Tag erschien ihm die Arbeit schwerer und lastete wie ein Fluch auf ihm, seit man ihm gesagt hatte, der Kapitalismus sei allein schuld an ihrem Elend. Wenn er auch nicht alles verstehen konn­te, worüber seine Mitarbeiter schimpften, so nährte es doch den Hass in seinem Herzen.
Die Herren, für die er arbeitete, wohnten weit weg vom Lärm und dem Staub, an sonnigen Halden, und kamen nur hin und wieder vorbei, um für einige Augenblicke die Tätigkeit des mächtigen Industriekör­pers zu kontrollieren. Die Fabrikleitung stand zwar in einem guten Ruf. Sie entlöhnte die Arbeiter anständig. Sie bezahlte Familien- und Kinderzulagen. Auch für hygienische Verbesserungen taten sie das Möglichste. Und doch lastete etwas Drückendes auf allem. Die Freude an der Arbeit fehlte. Wie Wesen ohne Herz und Seele verrichteten die Arbeiter das tägliche, mühevolle Einerlei ...
Die Unzufriedenheit grub sich immer tiefer in ihre Herzen. Ihre Gesichter waren bleich und ihre Blicke trüb. Nicht einmal beim Mit­tagessen an den langen Tischen in der Kostgeberei konnten sie ihr hartes Los vergessen. Einige schimpften über den traurigen Frass. Andere fluchten über die Vorarbeiter. Wenn sie nur alle der Teufel ho­len würde! Die Jüngeren, die das Leben noch nicht so tragisch nahmen, rissen Zoten und erzählten schmutzige Witze, dass sogar den Vergräm­testen ein Lachen entschlüpfte.
Der rothaarige Poldi mit dem breiten Asiatengesicht, den schieferblauen Augen und dem grossen Mund hielt eine Propagandarede über Solidarität. Er war die treibende Kraft der Organisierten. Ihm vertrauten die Arbeiter. Kummer und Sorgen hatten tiefe Furchen in sein Gesicht geschrieben. Oft brannte sein feuriges Temperament mit ihm durch.
„Hast du dich entschlossen?“ wandte sich Poldi an Franz.
„Ich muss es mir noch überlegen“, gab dieser gleichgültig zur Ant­wort und hob den Kopf kaum vom Teller.
„Was! Da gibt es nichts zu überlegen“, ereiferte sich Poldi.
„Bravo!“ schrien einige. „Sag es ihm nur, dem „Länder“, der ist noch hinter dem Mond daheim.“
„Du gottlosä Pleger“, neckten sie ihn vom anderen Tisch. „Bisch nit isärä einä ..“
„Haltet die frechen Mäuler“, lärmte Poldi. „Jetzt rede ich. Ihr seid noch dümmer als die „Länder“. So kommen wir nie ans Ziel. Die Men­schen müssen anders werden, wenn wir die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen wollen.“
„Und die Verhältnisse?“ fragte ein alter, grauhaariger Arbeiter.
„Die Menschen machen die Geschichte. Auch die Verhältnisse unter­liegen dem menschlichen Willen.“
„Gut gebrüllt, Roter“, fing der Graue wieder an. „So einfach ist die Sache nicht. Wir sind ja nicht einmal in unseren Reihen einig.“
„Zugestanden. Aber wer trägt die Schuld?“ Poldi hielt inne und be­trachtete Franz, dessen Gesicht vor Ärger immer röter wurde.
Franz senkte den Kopf noch tiefer. Aus den Reden der Arbeiter wurde er nicht klug. Er wusste nicht, was sie wirklich im Sinn hatten. Dass sie über die Ausbeuter und über den Kapitalismus fluchten, hatte er nun begriffen. Aber dass sie ihn, einen Arbeiter wie sie selbst, verlachten und verhöhnten, das konnte er nicht begreifen. Nein, das hatte nichts mit Solidarität zu tun ... Warum hassten und verspotteten sie ihn? Weil er aus den Bergen kam und ein Bauer war. Und doch hatte ihm der rote Poldi gesagt, die Organisation sei die Vereinigung der Arbeiter, um ihre Rechte zu wahren, um sich gegenseitig zu helfen. Zweifel regten sich in ihm. Denn das Benehmen der Arbeiter war mit ihren angeblichen Bestrebungen in einem furchtbaren Widerspruch. Ausser dem Roten lachten alle über ihn, und das tat ihm weh. Aber er fand keine Worte, um sich gegen die Spötter zu wehren.
Poldi klopfte ihm auf die Schulter. „Diese Maulhelden musst du nicht ernst nehmen. Am richtigen Ort getrauen sie sich nicht, den Mund zu öffnen. Kopf hoch, Kollega! Enttäuschungen werden auch dir nicht erspart bleiben.“
Franz hob den Kopf. Poldis Worte taten ihm wohl. Es freute ihn, dass es doch noch einen Arbeiter gab, der ihn in Schutz nahm. Nichts war Franz verhasster als solche blöden Bemerkungen über die „Länder“. Oh, wie er sie hasste, diese Phrasendrescher ...!
Poldi streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin dein Freund, darauf kannst du dich verlassen. Wir kämpfen für Freiheit und Licht.“



9.

Die Helle des Morgens drängte sich zwischen die Fensterläden in Menzis Schlafzimmer. Ungeordnet lagen die Kleider umher.
Sie öffnete die Augen. Gähnend streckte sie die Glieder. Gesicht und Hals waren rot gefleckt, die Folgen verlebter Stunden voll Leiden­schaft. Tief atmend drehte sie sich im Bett hin und her. Müde fuhr sie mit den Händen über das Gesicht. Die Augen schmerzten sie. Ge­danken regten sich. Ein leises Summen, wie verklungene Musik, glaubte sie zu hören. Das Leben erschien ihr so flüchtig wie vom Winde getriebene Wolken. Menzi zog die Decke über die nackten Arme und kehrte sich gegen die Wand. Es war Sonntag ...

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Vergrämt stand Franz erst gegen Mittag auf. Traurig schaute er vor sich hin. Stundenlang war er am Abend am alten Markt auf und ab ge­gangen, bis er sich schämte. Wieder hatte er umsonst gewartet. Menzi war nicht gekommen. Voll Hass und Ärger ging er von einer Wirt­schaft zur anderen. Er lachte und glaubte, alles vergessen zu können. Aber es war nur eine Selbsttäuschung, denn noch nie hatte ihn das Verlangen nach Menzi so gequält wie heute. Er war müde und wusste kaum, was er tat. Unschlüssig schlenderte er durch die Stadt. Und wirklich, er lachte. Aber es war nicht Freude. Nein, es war Groll, der in ihm aufstieg, jener furchtbare Hass des erotischen Egoismus. Hinter diesem Hass lauerte die ungebändigte Leidenschaft ...
Fast unbewusst stand er auf einmal in der engen Gasse, wo Menzi ihr Zimmer hatte. Im „Lämmlein“ spielte das Grammophon. Franz ging an dem Haus vorbei. Alles war ruhig. Nur eine Katze miaute.
Mit pochendem Herzen stieg er die Treppe hinauf und klopfte an die Türe, zweimal, dreimal. Dann horchte er gespannt. Es blieb ruhig. Nur von unten hörte er das weinerliche Miauen. Minuten vergingen. Franz hielt den Atem an und drückte das Ohr an die Türe. Endlich wurde die Türe um eine Handbreite geöffnet.
„Wer ist da?“ fragte Menzi.
„Ich“, gab Franz aufgeregt zur Antwort. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Die Eifersucht marterte ihn. Er stiess die Türe auf und sprang ins Zimmer.
„Lass mich!“ schrie Menzi, bleich vor Ärger.
Aber Franz hörte nichts. Er packte das Mädchen bei den Handgelen­ken und zog sie an sich. Sein Herz pochte wie wild.
„Ist es wahr?“ brachte er endlich hervor.
„Lass mich!“ schrie Menzi noch einmal. Aber Franz presste seine Finger noch fester um die Handgelenke des Mädchens, bis er auf ein­mal wie gelähmt ihre Hände fallen liess.
Menzi sank auf das Bett und verbarg den Kopf im Kissen. Franz schluchzte. Der Sturm in seinem Herzen hatte sich gelegt. Müde und traurig schaute er vor sich hin. Er wollte es nicht glauben, dass Menzi ihn verstosse. Ohne ihre Liebkosungen glaubte er nicht mehr leben zu können. Er ging auf sie zu, die immer noch ihr Gesicht verbarg. Tastend fuhr er ihr über die nackten Schultern und setzte sich auf den Bettrand.
„Du“, sagte er wie ein bittendes Kind. „Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Ich glaubte, das Herz würde mir zerspringen. Oh, diese Qual! Wo warst du gestern Abend? Mehr als eine Stunde habe ich am alten Markt auf dich gewartet ...“
Menzi hob den Kopf aus dem Kissen und lächelte verführerisch. Franz presste die Lippen auf die weichen Schultern. Der warme Kör­pergeruch stieg ihm in die Nase. Noch ungestümer verlangte es ihn jetzt nach dem Mädchen.
„Du hast kein Vertrauen zu mir“, schmeichelte sie ihm. "Für jede Minute soll ich dir Rechenschaft geben. Kein einziges Mädchen liesse sich das gefallen, was ich von dir annehmen muss.“
„Der Gedanke, du könntest mich hintergehen, machte mich fast wahnsinnig. Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Nun fühle ich mich so müde und traurig. Hilf mir.“
Menzi setzte sich auf und schlang den Arm um seinen Hals. Franz lehnte den Kopf an ihre Brust. Alles war vergessen, und es war wieder so schön wie eh und je. Ihre Hingabe kühlte sein heisses Blut. Nur ein­mal schaute sich Franz im Zimmer um, wo die Kleider wie verlorene Gegenstände herumlagen. Aber bevor seine Gedanken den Ursachen dieses Wirrwarrs nachgehen konnten, suchten Menzis Lippen seinen Mund.
„Wegen Unwohlsein musste ich gestern schon um vier Uhr aus dem Geschäft“, entschuldigte sie sich und strich Franz mit den Händen übers Haar. „Ich weiss heute noch nicht, wie ich heimgekommen bin“, log sie weiter.
Das Mädchen senkte den Kopf. Das Erlebte der vergangenen Nacht zog vor ihren Augen vorbei. Das aufregende Treiben im Nachtlokal. Die halbdunklen Champagnernischen, die verschwiegen das unge­bundene Leben dem Licht entzogen, bis..., ja, bis zuhause das Morgengrauen neckisch durch die Vorhänge schlich ...
„Hast du schon zu Mittag gegessen?“ fragte das Mädchen.
„Ich habe keinen Hunger“, gab Franz leise zur Antwort. Und schüttelte den Kopf.
„Aber mit mir nimmst du doch etwas“, flüsterte Menzi. „Franz, ich habe eine Idee. Ausgehen kann ich heute nicht, denn der Kopf schmerzt mich zu sehr. Du gehst ins „Lämmlein“ und holst etwas zum Essen und eine Flasche Wein. Dann verbringen wir den Nachmittag auf dem Zimmer. Bist du einverstanden?“
„Du weisst doch, dass ich am liebsten bei dir bin“, sagte Franz und lächelte.
„Das freut mich. Heute bist du mein Gast. Nimm dort die Zwanzigernote auf der Waschkommode.“
Als sich Franz entfernt hatte, ordnete Menzi die Haare und versorgte die herumliegenden Sachen. Die Sonne schien durch die Fensterläden. Menzi öffnete sie. Im Lichte der Sonne erschien sie wie eine Tierbän­digerin, die alles zu ihren Füssen zwingt.
Es war schon spät in der Nacht, als sich Franz von Menzi verab­schiedete. Aus dem „Lämmlein“ tönte die heisere Stimme des Gram­mophons.
Vom Wein und den Liebkosungen berauscht, ging Franz durch die Strassen der Stadt ...



10.

Über den Bergen wehte der Föhn. Am Tschuff jagte er den Schnee wie Wolken in die Luft. Die Bäche schwollen an und stürzten schäu­mend über die Felsen. Von einem Tag auf den anderen war es Frühling. Auf Arni blühten die ersten Blumen. Jauchzer widerhallten an den steilen Hängen. Alles freute sich, den Winter überstanden zu haben. An den Abenden sassen die Bauern vor den Häusern und er­zählten einander, was sie im Winter alles erlebt hatten. Die Kinder spielten in den Gassen und auf den Wiesen. Neues Leben zog mit dem Frühling in das kleine Bergdorf und machte die Herzen froher. Nur an dem kleinen Häuschen, das Margrit mit ihrem Vater bewohnte, machten die Freuden des Frühlings halt.
In der Kammer standen die kleinen Fenster offen. Die Sonne schien hinein. Mit blassem Gesicht sass Margrit am Bett ihres Vaters. Sie hielt die breite, knochige Hand des Vaters mit ihren Fingern um­schlungen. Mit dem Daumen fühlte sie die schwachen Pulsschläge. Oft setzte der Puls aus, als würde sich das Leben besinnen, ob es entfliehen wolle. Eine tückische Krankheit raubte dem Körper die Kraft. Ohn­machtsanfälle waren die ersten Erscheinungen der Krankheit gewesen. Der Keim sei in der Luft, hatte der Arzt gesagt.
Mit inniger Liebe pflegte Margrit ihren Vater. Der Gedanke an die Nacht machte ihr Angst. Und doch, sie hatte immer noch Hoffnung. Nein, der Vater durfte nicht sterben. Was sollte sie anfangen, allein und verlassen? Arbeit und Kummer, die ganze Schwere des Lebens hätte sie allein zu tragen ...
Das Heimwesen war zwar nicht gross, aber an eine Frau stellte das steinige Gütchen zu grosse Anforderungen. Und um fremde Leute anzustellen, reichte der Ertrag nicht. Wenn die Zinsen bezahlt waren, blieb nicht mehr viel. Wie ganz anders wäre es, wenn Franz noch da wäre ... Noch nie hatte sie sich so sehr nach ihm gesehnt wie heute. Aber sie wollte nicht verzagen, alles konnte noch gut werden. Margrit vertraute auf Gott, und das gab ihr Kraft, das Schicksal leichter zu tragen.
Als die Sonne erloschen war und die Nacht das Dörfchen in Dunkel­heit hüllte, nahm das Fieber des Kranken zu. Die Brust hob sich, als wollte sie der schaffenden Lunge Platz machen.
Traurig schaute sie auf das bleiche Gesicht des Vaters. Tränen rannen über ihre Wangen. Fragend schaute sie nach der Uhr. Langsam bewegte sich das Pendel ...
Lorenz öffnete die Augen, und aus seinen Blicken sprach väterliche Güte. Seine müden, verschleierten Augen suchten Margrit. Er wollte den Mund schliessen, aber der schwere Atem hinderte ihn daran.
Margrit schob die Kissen unter seinem Kopf zurecht und reichte ihm aus einem Glas zu trinken. Der Atem versperrte der Flüssigkeit den Weg. Weisser Schaum kam über seine Lippen. Margrit trocknete dem Vater mit einem Taschentuch den Mund.
Der Kranke schloss die Augen und tastete mit den Händen über die Bettdecke. Seine Sinne schwanden. Eine schwarze Mauer stellte sich vor seine Gedanken. Aus der Dunkelheit sah er grelle Farben empor­steigen, unerkennbare Bilder. Dann wurde es auf einmal wieder hell vor seinen Augen. Langsam kehrte das Bewusstsein zurück. Im Hals und auf der Brust schmerzte es ihn. Wieder suchten die trüben Augen seine Tochter. Bittende Blicke trafen das Mädchen ...
Margrit nahm den Vater bei der Hand. Der Kranke versuchte zu spre­chen. Unverständliche Worte kamen über seine Lippen. Margrit neigte den Kopf, um aus den abgebrochenen Worten den Sinn zu erraten. Der Kranke presste die Finger um ihre Hand, als würde ihm die Liebe des Kindes Kraft verleihen.
„Mar... grit ...“ , kam es kaum hörbar über seine Lippen. Und wieder war es still ..., unheimlich still. Nur der schwere Atem des Kranken und das monotone Ticken der alten Wanduhr waren zu vernehmen. Die Blicke von Vater und Kind schmolzen ineinander, als gäbe es keine Macht, sie zu trennen.
Mit der letzten Kraft versuchte Lorenz seinen Gedanken Ausdruck zu geben. „Sei nicht ... traurig ...“, kamen die Worte zwischen schweren Atemzügen aus seinem Munde. „Verzeihe ... ihm ... Es kann wieder gut .. werden ... Franz ...“
Margrit spürte ein Zittern, die Finger des Kranken lösten sich aus ih­rer Hand. Lorenz schloss die Augen. Sein Mund verzog sich. Ein schwaches Zucken ging durch seinen Körper.
Margrit neigte sich über den Sterbenden und weinte ...



11.

Müde kam Franz jeden Abend aus dem grauen Fabrikgebäude. Aber er war jung, und am Morgen fühlte er sich wieder frisch und stark. Nach und nach gewöhnte er sich an den Fabrikbetrieb, an das ewige Einerlei, an die Arbeit ohne Freude. Es ging nicht lange, und er be­nahm sich wie die anderen. Er fluchte und schimpfte. Damit sicherte er sich das Vertrauen der Kollegen. Die Neckereien gegen den „Länder“ verstummten. Aber Franz war verschlossen. Er redete nur mit Poldi. Den Roten gewann er lieb, wenn er auch nicht alles verstehen konnte, was dieser ihm erzählte. Mit seinen Vorstellungen vom Leben in der Stadt hatte er sich getäuscht. An die Arbeit hatte er nicht gedacht, als er noch in dem kleinen Bergdorf lebte. Dazumal sah er nur die Freu­den, die frohen Stunden mit Menzi. Wie ganz anders war nun die Wirklichkeit ...!
Sogar die Stunden, die er mit Menzi verbringen konnte, wurden ge­trübt. Das Flämmlein der Eifersucht loderte weiter. Die Ausein­andersetzung vom Sonntag fuhr dann und wann wie ein Nadelstich in sein Herz. Aber auch Vorwürfe regten sich in ihm. War es nicht un­dankbar, an ihrer Liebe zu zweifeln ...? Menzi gab ihm doch alles, was in einem Frauenherz lebt. So schwankte er zwischen Zweifel und Verlangen, ohne Ruhe und Frieden zu erlangen.
Die ländlichen Sitten und Anschauungen streifte er immer mehr ab. Er wurde Mitglied vom „Klub der Freiheit“, dem auch Menzi ange­hörte. Karl Krumm, der Vorsitzende des Klubs, wurde sein Freund. „Geniesse, solange du lebst“, war die Philosophie dieses Klubs.
Als Artist hatte Krumm alle grösseren Städte der Welt bereist, bis ihn körperliche Leiden zwangen, den Beruf aufzugeben. Als Kino­portier fristete er nun sein Leben. Sein Gesicht war stets blass. Müdig­keit lag auf seinen Zügen. Nur aus seinen Augen sprach noch das Feu­er der Zirkusarena.
Helle Begeisterung herrschte an der Klubsitzung. Karl hielt einen Vortrag. „Zerreisst die Ketten der Moralprediger, die hinter jedem Vorhang ein Laster vermuten! Seid tapfer. Frei wollen wir sein. Leben wollen wir, solange ein Tropfen Blut in unseren Adern fliesst. Nach dem Tod hört alles auf. Den Himmel überlassen wir den Narren und den Kindern ...“ Mit diesen Worten schloss Karl Krumm seine Rede. Rauschender Beifall belohnte seine Ausführungen.
Auch Franz klatschte, aber seine Hände erschienen ihm seltsam schwer. Eine Stimme regte sich in ihm und führte ihn gedanklich zu­rück in seine Heimat. In seinem Herzen spürte er den Zwiespalt fast schon als körperlichen Schmerz. War das Liebe? War das Glück? Warum fanden Sie keine Ruhe und keinen Frieden, er und seine Klub­freunde, da sie doch behaupteten, die Einflüsse einer veralteten Erzie­hung längst überwunden zu haben ...? Und noch vieles mehr kam ihm in den Sinn. Wenn er am Abend, wenn es dunkel war und der Lärm in den Strassen verstummte, heimging, dann musste er oft stille stehen und hinaufschauen zu den Sternen und zu den Wolken, die wie ge­waltige Schiffe am Mond vorbeizogen. Dann kam das Heimweh und klammerte sich an sein Herz. Es war ihm dann, als hörte er das Rauschen des Wildbaches und das Echo der Jauchzer. Für einen Augenblick sehnte er sich zurück in das kleine Bergdörfchen ...
Menzi fuhr ihm mit den Fingern über die Hand. Das Blut schoss nach seinem Herzen. Die Vergangenheit war vergessen. Auch er wollte frei sein und leben ...



12.

Der grelle Schrei der Fabriksirene war verhallt. Das grosse Tor der Chemischen wurde aufgerissen. Wie eine Lawine ergoss sich der Strom der Arbeiter über den Platz. Poldi war der erste. Mit den Händen fuchtelte er in der Luft herum.
An der roten, verwetterten Backsteinmauer standen Fässer und Kis­ten. Poldi kletterte auf eine der Kisten. Seine Augen funkelten. Der Abendwind fuhr durch seine langen, roten Haare. Wieder streckte er die Hände gebieterisch in die Luft und drehte sich nach allen Seiten. Wie eine furchtbare Anklage dröhnte seine Stimme in der Stille des Abends. „Arbeier“, schrie er aus allen Kräften. „Die Gruppe der organisierten Schlosser hat einen sehr wichtigen Beschluss gefasst, den ich euch mitzuteilen habe. Obwohl ich den Ernst der Lage nicht ver­kenne, so schaue ich doch getrost in die Zukunft. Unsere Solidarität wird uns zum Ziele führen. Auch wir haben das Recht auf Freiheit und ein Plätzchen an der Sonne ...“
„Bravo!“ tönte es aus den Reihen der Arbeiter. Aber noch wussten sie nicht, worum es sich handelte. Einige streckten die Köpfe zu­sammen und gaben ihrem Misstrauen durch Fluchen Ausdruck. Ande­re fingen zu singen an, „Wacht ... auf ...“
Poldi strich die Haare aus der Stirne. Er überschaute die erregte Menge. Aus den bleichen Gesichtern sprach die Härte des Lebens. Es waren seine Arbeitskollegen, für die er kämpfte. Unzählige Tage und Nächte hatte er geopfert für das Wohl der Gesamtheit, ohne an sich zu denken. Nichts war ihm zuviel, wenn es galt, für die Arbeiter einzu­stehen. Durch seine Uneigennützigkeit hatte er das Vertrauen der Arbeiter erworben. Und doch, wenn er die Menge überschaute, ging ein Zittern durch seinen Körper. Aber ein Zurück gab es nicht mehr.
Drohend erhob er die Hand. „Lange haben wir geduldet, aber nun ist das Mass voll“, fing er noch leidenschaftlicher zu sprechen an. Seine Stimme überschlug sich. „Heute geht es in unserem Kampf nicht um materielle Fragen. Die Verhältnisse, unter denen wir die tägliche Arbeit verrichten müssen, sind für uns von sehr grosser Bedeutung. Ein einziger Mensch kann uns das Leben zur Hölle machen. Eine sol­che Kreatur haben wir in der Schlosserei. Es ist der Verräter Schwarz. Ich sage euch, solange der in der Bude ist, gibt es keine Ruhe ...“
„Bravo!“ tönte es wieder aus den Reihen der Zuhörer.
Poldi wischte den Schweiss von der Stirne. Ein Hauch von Freude zog über sein Gesicht. Nein, jetzt brauchte er sich keine Sorgen zu ma­chen, dass die Sache schief gehen werde. Er hatte die Arbeiter hinter sich. Und die Leitung der Organisation ...?
„Wir haben uns entschlossen“, fing Poldi wieder an. „Ihr werdet uns begreifen, und ich zweifle keinen Augenblick an eurer Solidarität. Durch Kampf zum Sieg ...“
„Bravo ..., bravo ...“, schrie die Menge von Neuem.
„Die Unterhandlungen mit der Fabrikleitung waren ergebnislos. Un­sere Antwort ist der Streik. Kein Schlosser geht mehr in die Bude, so­lange dieser Verräter nicht an die Luft gesetzt ist. Uns ist kein Opfer zuviel. Es lebe der Kampf. Es lebe die Solidarität!“
Poldi stieg von der Kiste herunter. Der Platz leerte sich. Die Mei­nungen waren geteilt. Viele hielten es für unverantwortlich, ja für ver­rückt, wegen einer solchen hirnverbrannten Forderung in den Streik zu treten. Wegen einem einzigen Menschen, der eine andere Welt­anschauung hatte und vielleicht gar nicht so schlecht war, wie man ihn hinzustellen versuchte, soviel aufs Spiel zu setzen.
Am Abend versammelten sich die Schlosser im „Lämmlein“, um die Vorkehrungen für den Streik zu treffen. Der Gewerkschafts-Sekretär rügte das Vorgehen der Schlosser als eine unüberlegte Kinderei. Aber die Schlosser beharrten auf ihrem Beschluss.
Drei Wochen später war der Streik beendet. Er hatte keine grossen Wellen geworfen. Ausser einigen Zwischenfällen mit den Streikposten war alles ruhig verlaufen. Die Fabrikleitung hatte gesiegt. Die Schlosser waren die Geschlagenen. Poldis Antrag, den Streik auf den ganzen Betrieb auszudehnen, war abgelehnt worden.
Die Bedingungen der Direktion wurden angenommen, um sich nicht noch grössere Nachteile einzuhandeln. Alle konnten unter den bishe­rigen Verhältnissen die Arbeit wieder aufnehmen. Der Verräter Schwarz blieb. Nur für den roten Poldi war das Fabriktor für immer geschlossen.
Moralisch zerknirscht nahmen die Schlosser die Arbeit wieder auf. Der Morgen war schön, aber in ihren Herzen war es dunkel. Wie vom Fluch beladen schlichen sie sich entmutigt in das graue, verwitterte Gebäude. Aus dem hohen Kamin stieg der Rauch träge in die Luft. Drei Wochen waren sie vor den Toren gestanden, und heute mussten sie wieder hinein, mit noch grösseren Sorgen beladen. In der Nähe des Eingangs stand Poldi an der roten Backsteinmauer. Er war blass. Trau­rig schaute er seinen Kollegen nach ...
Klagend schrie die Sirene. Ein Surren und ein Stöhnen hob an. Der Boden zitterte. Alles schien in Bewegung zu sein. Die Maschinen waren erwacht. Das Tor wurde geschlossen. Poldi kehrte sich um und trat auf die Strasse. Sie war leer und verlassen. Wie ein Verlorener ging er dem Fluss entlang und schaute in das trübe Wasser ...
13.

Im Nachtcafe „Zum Halbmond“ setzte die Musik aus, bevor der erste Teil eines Boston zu Ende gespielt war. Ein Schrei aus der Mitte der Tanzenden brachte das Orchester zum Schweigen. Ein dumpfer Auf­prall unterbrach die verhallenden Töne. Jugendliche Tänzerinnen be­deckten mit den Händen die Augen. Einige rannten nach dem Aus­gang. Ein Kellner zwängte sich durch die Menge. Knabenhafte Bur­schen starrten auf einen Mann, der am Boden lag.
Das fleischlose Gesicht war gelblichweiss. Die trüben Augen starrten nach der Decke, als hätten sie die ganze Welt verloren. Der magere Körper streckte sich.
Franz und Menzi standen neben dem Mann, der immer noch auf dem Boden lag. Furchtsam schmiegten sie sich aneinander. Zwei Kellner trugen den Ohnmächtigen aus dem Saal. Gleich darauf setzte das Or­chester wieder ein ... „Wenn die Sternlein am Himmel stehen ...“
Franz trank das Glas leer. Seine Hände zitterten. „Bleibe hier“, sagte er aufgeregt zu Menzi. „Ich will sehen, wie es ihm geht. Der arme Teu­fel hat sich ins Fieber getanzt. Sein Herz ist schwach und kann bei je­der Aufregung versagen. Er wusste, dass er krank war, aber er wollte es nicht zeigen, denn er liebte das Leben.“
In einem Champagnerstübchen, das von einem mit roten Papier­streifen verhängten Licht nur schwach erhellt war, lag Karl Krumm auf einem Diwan. Franz setzte sich neben ihn und strich ihm die langen Haare aus dem Gesicht.
„Tod infolge Herzschlag“, konstatierte der Arzt.
Die rhythmischen Klänge eines Boston umschwirrten Karl Krumm, als ihn der Tod ereilte. Aber um seinen Mund zog sich kein Lächeln, das verraten hätte, er wäre in Freuden entschlummert, treu dem Prinzip „Leben wollen wir, solange ein Tropfen Blut in unseren Adern fliesst“.
Während Franz die Überführung der Leiche anordnete, flirtete Menzi mit dem Rennfahrer Conti.
„Am Sonntag wird auf der Rennbahn um den 50-Kilometer-Preis gefahren. Mach, dass du am Abend frei bist“, sagte Conti hastig, wäh­rend sich seine Blicke in die weitentblösste Brust des Mädchens gruben.
„Oh, ich freue mich so“, schmeichelte sie und drückte sich an Contis Brust. „Wann sehen wir uns?“
„Um sieben Uhr im Splendid.“
„Im Restaurant?“
„Nein, in der Weinstube“, raunte ihr Conti hastig ins Ohr.
Wenn der plötzliche Tod seines Freundes ihn nicht verwirrt hätte, so hätte Franz den letzten Satz verstanden, als er an den Tisch zurück­kehrte.
„Was hast du?“ fragte Menzi, als er sich setzte. „So blass habe ich dich noch nie gesehen.“
Franz griff nach dem Glas, das Conti während seiner Abwesenheit nachgefüllt hatte. „Karl ist tot“, gab er kurz und traurig zur Antwort, als er das Glas abstellte.
„Er hatte den Totenschein schon längst im Sack“, meinte Menzi gleichgültig.
„Aber er war noch jung! Ich hätte ihm das Leben noch gewünscht“, erwiderte Franz und schaute sie vorwurfsvoll an.
„Mach es anders, wenn du kannst“, gab Menzi trocken zurück, da es ihr lieber gewesen wäre, Franz hätte sie nicht gestört. Der Südländer gefiel ihr. Nie plagte er sie mit Eifersüchteleien. Conti war zufrieden, wenn sie ihm wieder einen Abend schenkte und fragte nicht, wo sie gestern Abend gewesen war.
Franz starrte vor sich hin. Er konnte es nicht fassen. So schnell konn­te es gehen? Was war das Leben ...? „Komm, wie wollen heimgehen“, bat er traurig.
„Was kommt dir in den Sinn, einfach so zu gehen“, schmeichelte Menzi und fuhr ihm mit der Hand über die Wangen.
„Ich bin müde“, bestätigte Franz. Und zudem macht es sich nicht gut.“
„Oh du Narr. Karl spürt sicher nichts davon, wenn du hier bleibst.“
Conti füllte die Gläser und bestellte eine neue Flasche. Die Gläser klirrten. „Zum Wohl!“ Menzi lachte, schlang Franz den Arm um den Hals und küsste ihn. Franz trank das Glas leer. Der Wein und die Lieb­kosungen liessen ihn das Traurige vergessen ...
Als sie gegen Morgen das Nachcafe verliessen, war Franz so betrun­ken, dass er ohne Hilfe nicht mehr gehen konnte. Conti schleppte ihn auf sein Zimmer.
Am anderen Morgen kam Franz zu spät in die Fabrik. Verworren schwebte ihm das Erlebte durch den Kopf. Überall sah er das blasse, magere Gesicht von Karl Krumm, wie er mit den halboffenen Augen auf dem Diwan lag. Der Rest des Abends war seiner Erinnerung ent­flohen.
Nach drei Tagen entstieg dem Krematorium ein kleines Räuchlein, das schnell von der Luft verzehrt wurde. Es war das letzte, was sich von Karl Krumm in der Unendlichkeit verlor.



14.

Einem heissen Sommer folgte ein stürmischer, nasser Herbst. Acht Tage ging der Föhn, dann schlug das Wetter um. Der „Dimmerföhn“ (Südwester) jagte die Wolken bis tief ins Tal. Es wurde nicht mehr richtig Tag. Mit furchtbarer Wucht peitschte der Wind den Regen auf die Erde. Die Bäche stiegen von Stunde zu Stunde an und unten im Tal trat die Reuss über die Ufer. Unheimliches Getöse erscholl von überall her. Es roch nach Schlamm und Gletscherwasser. Rüfenen über­schütteten das Land. Alles war in Angst und Aufregung. Die Glocken läuteten „Sturm“ und in den Häusern brannten die Lichter die ganze Nacht hindurch.
Nach einer langen, stürmischen Woche verzogen sich die Wolken. Bleich schaute die Sonne über die öde, verwüstete Landschaft. Die Erde dampfte, als hätte sie einen furchtbaren Kampf hinter sich. Vereinzelte Nebelfetzen strichen noch wie müde, verwundete Krieger durch die Wälder.
Margrit stand vor dem Haus. Traurig schaute sie über die kleine Matte. Schutt und Schlamm bedeckten fast die Hälfte ihres Landes.
„Es sieht bös aus“, rief eine Stimme von der Gasse her, die an ihrem Haus vorbeiführte. „Aber drunten an der Reuss soll es noch schlimmer sein.“
„Ja, es ist traurig“, sagte Margrit. „Ich weiss nicht, was ich anfangen soll. Ich bringe die Steine nicht aus dem Land und wenn ich hundert Jahre alt werde.“
Der Gemeindepräsident machte das Türchen auf und reichte ihr die Hand. „Für dich ist es schwierig, das muss ich sagen. Aber du bist jung und gesund. Du wirst schon jemanden finden, der dir hilft; wenn du willst, heisst das.“
„Woher soll ich das Geld nehmen? Das Gütchen wirft ja nicht viel mehr ab als den Zins für die Schulden. Und jetzt ist die Hälfte des Landes überschüttet. Nein, daran kann ich nicht denken.“
„Du willst mich auch gar nicht verstehen. Ich meine es nicht so. Fürs lange Jahr musst du einen Knecht anstellen; dem brauchst du keinen Lohn zu geben. Und dann hast noch was fürs Gemüt. Alt genug bist ja, und das ewige Alleinsein ist kein Leben. An rechtschaffenen Burschen fehlt es nicht. Hast denn noch nie gemerkt, dass der Walker Sepp und der Tresch Peter ein Aug´ auf dich haben ...? Oder magst denn gar keinen? Weisst, das wäre schade. Musst es mir nicht übel nehmen.“
Margrit wurde rot im Gesicht. Ja, sie schämte sich. Zornig lehnte sie sich auf. „Ich danke für Ihren Rat. Die Liebe ist kein Kuhhandel. Ver­kaufen tue ich mich nicht, auch wenn ich arm bin. Glaubt es mir, da will ich lieber, die Steine liegen bis zum Jüngsten Tag auf meinem Land.“
„Du brauchst mir deswegen nicht böse zu sein“, bemerkte der Prä­sident lachend. „Oder glaubst du etwa, es sei ein Verbrechen, wenn du ans Heiraten denkst? Aber wem nicht zu raten ist, ist nicht zu helfen! Adieu Margrit, denk noch einmal darüber nach.“
Margrit schaute dem Gemeindeoberhaupt nach. Sie mochte ihn sonst gut leiden. Und sie wusste, dass er es gut meinte. Aber mit Liebe hatte dies nichts zu tun. Der Walker Sepp und der Tresch Peter waren brave Burschen ...
Und doch rann eine Träne über ihre Wange. Der Präsident hatte an eine ihrer Wunden gerührt. Die Sehnsucht erwachte wieder. Alles hätte sie Franz verziehen, wenn er nur wieder käme! Die Liebe zu ihm machte sie still und versonnen. Sie fühlte sich müde und verlassen. Aus allem sprach ein tiefes Weh. Auch in der Natur sah sie ein stilles Verlangen nach Liebe. Übermütig drängte das Bächlein vorwärts. Lä­chelnd schauten die Blumen zur Sonne, die ihnen die Tautropfen von den Lippen küsste. Der Wind schmiegte die Blätter und Gräser anein­ander, es raunte in den Bäumen und Sträuchern von jener Macht, die alles schuf.
Warum kam es immer wieder, dieses Verlangen, das sich wie ein Windhauch in ihr Herz schlich? Grünte und blühte der alte Apfelbaum vor ihrem Haus nicht auch jedes Jahr? Wenn er es einmal vergessen würde ...?
Wochen vergingen. Die Sonne ging den gewohnten Weg. Die Land­schaft hatte sich erholt. Sie sah nicht mehr so trostlos aus wie nach den ersten Tagen des Unwetters. Auch die Menschen waren wieder froher. Überall war man mit dem Wegräumen der gewaltigen Schuttmassen beschäftigt. Dann und wann hörte man sogar einen Jauchzer.
Auch Margrit holte das Werkzeug aus dem Holzschopf und machte sich daran, das Geschiebe wegzuräumen. Aber das war keine Arbeit für ein Mädchen. Sie kam sich vor wie das Knäblein, das das Meer ausschöpfen wollte. Ganze Tage, eine Woche lang, hatte sie sich abge­müht und sich müde Glieder und zerschundene Hände geholt.
Es war Samstag. Die Sonne hatte sich bis auf die Gipfel der Berge zurückgezogen. Auf den Matten wurde es ruhiger. Das trockene „Gschii ... gschii ...“ der Schiebekarren verstummte, und nur vereinzelt widerhallte ein Schlegelhieb an den Felsen. Die Ruhe des Abends senkte sich über das Bergdörfchen. Das Vieh auf den Weiden wurde unruhiger und verlangte mit heftigem Muhen nach dem Stall. „Chom ... sä ... sä ...“ lockte Margrits Nachbar die Kühe und trieb sie in den Stall. Und oben an dem steilen Grat des Schattig Wichels kamen die Geissen über den schmalen Weg. Wenn die Tiere ins Ho­helicht kamen, schien es, als würden sie grösser und schwebten frei in der Luft. Die eine oder andere der Geissen blieb stehen und äugte mit ihren grossen, unerforschbaren Augen hinunter in die in Stille versun­kene Bergwelt.
Margrit stützte sich auf die Schaufel und starrte nachsinnend in das Loch, das sie in einer Woche in den Schutthaufen gegraben hatte. Dann überschaute sie die grosse Fläche, die noch mit Geröll bedeckt war. Es wurde ihr sonderbar zumute. Kaum ein tischgrosses Plätzchen hatte sie in einer Woche freigelegt. Nein, da reichten ihre Kräfte nicht aus! Und doch, etwas musste geschehen. Wovon sollte sie leben und den Zins aufbringen, wenn nur noch die Hälfte des Landes fruchtbar war ...? Aber was sollte sie machen? Der Walker Sepp oder der Tresch Peter ...?
Der „Mutsch“, die alte Kuh und das magere Kälbchen standen schon lange vor der Stalltüre. Die Kuh leckte dem Kleinen das struppige Fell. Erst als Margrit neben ihr stand, hob die Kuh den Kopf und fing zu muhen an. „Hast lange Zeit?“ sagte Margrit und kratzte dem „Mutsch“ zwischen den abgebrochenen Hörnern.
Während sie die Kuh melkte, fiel ein Schatten in den Stall. Ein Mann lehnte sich an die Türe. „Glück in den Stall!“ ertönte die weiche Stimme des Bergpfarrers.
Margrit erschrak. Was mochte ihn zu ihr führen? Seit Vaters Tod hatte sie nicht mehr mit ihm geredet. An den Sonntagen nach dem Gottesdienst hatte er ihr immer freundlich zugenickt. „Guten Abend Herr Pfarrer“, grüsste sie schüchtern.
„Wie geht`s, Margrit?“ fragte der alte Seelsorger. Milde und Güte war dem ehrwürdigen Herrn ins Gesicht geschrieben. Um alle seine Pfarrkinder war er besorgt, denn auch er kannte das harte Leben in den Bergen. Sein Vater war ein armer Geissbauer.
„Ich kann nicht rühmen, und schimpfen hilft auch nichts“, gab diese wehmütig zur Antwort. „Aber eines weiss ich, dass ich den Schutt meinen Lebtag nicht vom Feld wegbringe. Das ist eine harte Nuss, wenn man auf jeden Halm angewiesen ist. Gewiss, man sollte nicht klagen, wenn man gesund ist. Aber was will ich machen? Wenn ich den „Mutsch“ verkaufen muss ...?“
„Gerade deswegen bin ich gekommen. Die ganze Woche habe ich dir zugeschaut, wie du vom frühen Morgen bis zum späten Abend Pickel und Schaufel geschwungen hast. Das ist keine Arbeit für dich; du könntest dich zu Tode arbeiten, aber mit dem Schutt wirst du doch nicht fertig. Margrit, ich glaube eine Lösung gefunden zu haben, die dir über das Ärgste hinweghelfen wird.“
„Oh, wie wäre ich Ihnen dankbar!“ sagte Margrit freudig.
„Es läutet zum Rosenkranz“, entschuldigte sich der Pfarrer und machte sich daran, zu gehen ...
„Du kommst Morgen nach der Predigt zu mir“, wandte er sich noch­mals an Margrit. „Dann können wir die Angelegenheit in Ruhe mitein­ander besprechen.“
„Gute Nacht, Herr Pfarrer“, sagte sie verlegen.
Länger als sonst sass Margrit am Fenster. Die Müdigkeit war vergessen. Was mochte wohl der Pfarrer vorhaben? Warum hatte er es ihr nicht gleich gesagt? Solche Überlegungen stimmten sie misstrau­isch. Hatten sich denn alle gegen sie verschworen?
Der Gottesdienst war beendet. Die Fenster in dem alten Pfrundhaus standen offen. Die Herbstsonne erhellte die Stube, in der der Pfarrer auf- und abging. Der Seelsorger dachte an die Predigt: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“ Ja, so vieles war vergangen und anders geworden. Auch in dem abge­legenen Bergdorf hatte sich vieles verändert. Der moderne Zeitgeist machte sich bemerkbar. Jung und Alt entfremdeten sich. Wer längere Zeit in der Stadt war, brachte das Fremde, das nicht zu dem schlichten Volk passte, in das kleine Bergdorf. Dieser Geist, der sich wie ein grauer Nebel über das Dorf legte, machte den alten Pfarrer oft traurig. Seine gutgemeinten Ermahnungen wurden von den Jungen nicht Ernst genommen. Aber eines freute ihn, nämlich, dass der Sturm der Zeit an den Alten nicht zu rütteln vermochte. Wie Wettertannen trotzten sie diesem und verteidigten den Glauben und die Sitten der Väter.
Margrit hatte länger als sonst an des Vaters Grab gebetet. Sie wusste, dass es der Pfarrer gut mit ihr meinte; und doch hatte sie eine eigen­tümliche Angst. Wenn nur schon alles vorbei wäre! Seit des Vaters Tod war es ihr nie mehr so schwer zumute gewesen.
Der Pfarrer ging immer noch auf und ab in seiner Stube, als sie an die Türe klopfte. „Nimm Platz, Gritli“, sagte der alte Herr und reichte ihr die Hand. „Im ganzen Kirchgang ist niemand so schwer vom Un­wetter getroffen worden wie du“, fuhr der Seelsorger fort. „Das halbe Gütchen ist mit Schutt überhäuft. In diesem Zustand ist es unmöglich, den Zins herauszuwirtschaften, vom Essen ganz zu schweigen. Wenn du auf deinem Mätteli leben willst, so muss der Dreck weggeräumt werden, dass wieder Gras wachsen kann. Etwas anderes gibt es nicht.“
„Ja, ja Herr Pfarrer, das ist leichter gesagt als getan. Daran denke ich nicht mehr. Ich könnte mich zu Tode schaffen, aber mit den Steinen würde ich nicht fertig.“
„Das weiss ich“, sagte der alte Herr und klopfte Margrit auf die Schulter. „Du allein kannst das nicht, es muss dir jemand helfen.“
„Es ist mir nicht klar, wie Sie das meinen. Wer soll mir helfen, da ich kein Geld habe?“ Margrit senkte den Kopf. Wollte etwa auch der Pfarrer sie verschachern? Alles könnte man von ihr verlangen, aber ihr Herz warf sie für einen lumpigen materiellen Vorteil nicht weg. Mö­gen die Steine doch ewig auf ihrem Mätteli liegen bleiben ...!
„So schlimm ist die Sache nicht, wie du sie dir vorstellst. Oder bist du immer noch nicht zufrieden, wenn ich dir sage, dass ich jemanden kenne, der dir gerne hilft“, mahnte der Pfarrer.
Margrit wurde rot im Gesicht. Es war also doch so, wie sie geahnt hatte. Da irrte sich aber der Pfarrer. Und zudem passte dies nicht zu dem alten, gütigen Herrn, auf den sie so viel hielt. Hatte etwa auch da der Präsident die Hand im Spiel? Wollte man sie mit Gewalt unter die Haube zwingen?
Der Pfarrer bemerkte ihre Verlegenheit. „Sei nicht so misstrauisch. Was glaubst du eigentlich? Ich will dir sicher niemanden aufzwingen, und wenn es auch nur ein Knecht wäre. Du musst schliesslich das ganze Jahr mit ihm unter einem Dach leben. Aber sag mir aufrichtig, willst du es nicht mit dem Schwander Alois versuchen?“
Margrit senkte den Kopf; dann sagte sie leise, um sich zu entschul­digen: „An den Alois habe ich nicht gedacht, aber ...“
„Ich weiss, was du sagen willst“, fiel ihr der Pfarrer ins Wort. „Wegen des Lohnes brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Die Sache ist schon geregelt. Alois macht keine grossen Ansprüche. Er ist ein ruhiger, herzensgütiger Mensch.“
Ja, mit dem Schwander Alois konnte es Margrit wagen. Jetzt wurde es ihr leichter ums Herz.



15.

Für Poldi, den einstigen Agitator, begann eine schwere Zeit. Die Arbeiter wandten sich von ihm ab. Nach einem Monat wurde er aus der Organisation ausgeschlossen. Nun war er als Unwürdiger gebrand­markt. Und doch, er war sich keiner Schuld bewusst. Er war nun mal ein Dränger und Stürmer, dem die Entwicklung viel zu langsam vor sich ging. Seine Idee war ihm zum Verhängnis geworden. Die einstigen Freunde, an die er geglaubt hatte, hatten ihn über Bord ge­worfen. Keiner fragte ihn, wovon er nun lebe ... Als Kolporteur kom­munistischer Literatur fristete er sein armseliges Leben. Jede Woche versammelten sich etwa ein Dutzend angebliche Kommunisten im äusseren Arbeiterviertel; in einem kleinen, feuchten Lokal. Es waren immer dieselben Gesichter.
Hin und wieder verirrte sich ein Intellektueller zu ihnen. Gegen alle Neulinge waren sie misstrauisch. Aber auch in dieser von Hass erfüll­ten Atmosphäre wurde Poldis Herz nicht leichter. Marx und Engels, Mehring und Lasalle hatte er gelesen, aber alle hatten sich geirrt, wenn nicht im Wirtschaftswesen, so doch am Menschen. Ein unersättlicher Egoismus verschlang in der staubigen Luft des Alltags das Ideal. Brüder standen gegen Brüder, Idee gegen Idee ...
Traurig sass Poldi in seinem dunklen Dachkämmerlein und dachte über das Schicksal der Menschheit nach ... Alle könnten es schön haben, wenn man wirklich Mensch wäre. Aber Hass und Egoismus er­stickten das Gute im Keime, und der Neid verdrängte die Liebe aus den Herzen. Mit Schlagwörtern und Phrasen kann man die Welt nicht aus den Fugen heben. Erziehen muss man die Menschen zum Wahren und Guten. Zu dieser Erkenntnis mochte sich Poldi nach und nach durchzuringen. Bittere Erfahrungen lehrten ihn die Welt und die Menschen wieder in ihrer Wirklichkeit zu sehen und zu beurteilen.
Dann und wann stand Poldi vor der Chemischen und lehnte sich an die verwitterte, rote Backsteinmauer. Wenn sich das grosse Tor öffnete und sich die bleichen Gesichter auf die Strasse ergossen, schaute er ih­nen nach, seinen früheren Kollegen. Sie gingen an ihm vorbei, ohne zu grüssen. Nur Franz stellte sich zu ihm und gab ihm die Hand. Franz war ihm treu geblieben. Im „Lämmlein“ tranken sie ein Bier und er­zählten einander die Erlebnisse. Poldi der Schwärmer war ruhiger ge­worden. Er hatte sich wieder gefunden, die Freude am Leben erwachte wieder langsam in ihm. Er floh die Menschen, um endlich Ruhe zu haben. Das kleine, feuchte Versammlungslokal wurde geschlossen. Als Vertreter einer Zeitschrift fand Poldi Arbeit und Verdienst.



16.

In der Chemischen hatte es Franz bis zum Hilfsheizer gebracht. Diese Arbeit sagte ihm besser zu. Nur, die Anlage war alt und repara­turbedürftig.
Der Kohlenstaub tanzte um die schmutzigen Lampen. Vor einer halben Stunde war die Nachtschicht abgelöst worden. Franz warf den Kohlenhammer auf die zertrümmerten Briketts und lehnte sich an die Mauer. Er war müde. Die Augen schmerzten ihn, und die Gedanken lasteten schwer auf seiner Seele. Das Misstrauen gegen Menzi rumorte in seinem Herzen.
Wieder hatte er vergebens am alten Markt gewartet. Wie eine hungrige Bestie hatte er im Schatten gelauert. Über eine Stunde war er an den Häusern entlang geschlichen und hatte gefroren.
Im Stillen fluchte er über das Mädchen und schwor, es sei das letzte Mal. Das war immer so, aber stets siegte die Leidenschaft und das Verlangen nach Liebe. Franz fand keine Ruhe. Er vermochte seine Ge­danken nicht mehr auf die Arbeit zu richten ...
Die Ventile klopften. Zitternd stiegen die Manometer. Acht ... zehn Atmosphären ... Schon stand der Zeiger auf dem roten Strich. Däg ... dig ... klopften die Ventile.
Franz starrte vor sich hin. Schweiss stand auf seiner Stirne. Seine Augen suchten die Manometer. Ein Zittern fuhr durch seine Glieder. Seine Blicke bohrten sich auf den Regulierhahnen. Zu spät ... Ein furchtbarer Knall. Ein jäher Schrei ..., und vor seinen Augen wurde es schwarz.
Die Anlage hatte dem Überdruck nicht standgehalten. Franz lag am Boden. Durch die zertrümmerten Fenster floh die Hitze. Gesicht und Hände schmerzten ihn. Tränen rannen aus seinen Augen.
Kopf und Hände mit Verbandstoff umhüllt lag Franz in der chirur­gischen Abteilung. Leise Seufzer kamen aus seinem Munde. Das Gesicht schmerzte ihn, und in den Augen stach es wie mit Nadeln. Hilflos lage er da, er, der vor kurzem der Welt und allem getrotzt hatte. Kaum hörbar vernahm er das Ticken der Wanduhr. Wie ein schwarzes Ungetüm, das sich nicht vom Fleck rührte, stand die Zeit vor seinen geplagten Sinnen.
Schlaflos verbrachte er die Nacht. Als er noch geniessen konnte und Forderungen an das Leben stellen durfte, verging ihm die Zeit in wechselhaften Schwingungen. Langsam verging ihm die Zeit, wenn er voll Ungeduld eine Zusammenkunft mit Menzi erwartete. Im Sturm des Geniessens flogen die Stunden nur so dahin. Jetzt wollten sie nicht mehr fliehen, die Stunden, die sich an seine Hilflosigkeit und an seinen Schmerz hängten.
Noch nie im Leben hatte er sich so nach Liebe gesehnt, nach einem einzigen Wort des Trostes. Gerne hätte er seinen müden Kopf, der ihn so schmerzte, an Menzis Brust gelehnt. Dann, so glaubte er zu wissen, hätte er schlafen können. Ihre Liebe würde seinen Schmerz stillen. Aber das Mädchen kam nicht ...
Schon eine Woche lag Franz im Krankenhaus. Die Schmerzen im Gesicht hatten nachgelassen. Nur die Augen taten ihm noch furchtbar weh. Über die körperlichen Leiden beklagte er sich nie, nur die Sehn­sucht machte ihn müde. Jede Stunde des Tages zählte er. Immer länger erschien ihm die Zeit.
Menzi hatte ihn noch nicht besucht. Nun kamen sie wieder, die Zweifel. Seine Gedanken führten ihn zurück bis ins Klublokal, ja bis hinab ins Chinesenstübchen. Es war ihm, als hörte er seine Kollegen lachen und scherzen. Wie das Heulen eines Sturmes fegte es an seinen Ohren vorbei: „Frei wollen wir sein, leben wollen wir ...“
Müde fuhr er mit den Händen über den Verband, als könnte er die unliebsamen Gedanken fortwischen. Wo war das Leben, an das er ge­glaubt, das seine Sinne beherrscht hatte? Alles hatte er vom Leben erhofft, was ihm die Stürme der Leidenschaft vormalten. Nun war alles zertrümmert. Von allen war er verlassen. Sollte vielleicht die Nacht nicht mehr von seinen Augen weichen? Dann wäre es besser, er wäre in der Hitze erstickt.
Eine furchtbare Trauer beklemmte sein Herz. Das Leben war ein un­lösbares Rätsel, in dem sich der menschliche Geist verlor wie ein Tropfen Wasser im Meer. Franz schluchzte. Der Verbandstoff sog die Tränen auf.
Wie ein Fischer, der dem Sturm entronnen ist, schaute er zurück. In weiter Ferne sah er Frieden und stilles Glück. Rein und unverdorben sang der Wildbach seine Lieder. Kosend streifte der Föhn seine Wangen und fuhr ihm durch die Haare. Wenn der Abendwind kam, setzte er sich neben Margrit und schaute ihr bis auf den Grund ihrer reinen Seele, die nicht vom Sturm der Leidenschaft berührt war ... So war es gewesen, bevor er das Leben in der Stadt kennenlernte.



17.

Der Schwander Alois machte sich. Margrit war mit dem Knecht zu­frieden. Im Frühjahr war der Schutt bis in den kleinen, schattigen Zopf weggeräumt. Den „Mutsch“ hatte sie nicht verkaufen müssen. Und bis Martini würde sie den Zins aufbringen können. Langsam heilte die Wunde in ihrem Herzen.
Zuerst gab es ein mächtiges Gerede, als Margrit den Wysi ins Haus nahm. „Wenn es ein anderer gewesen wäre“, sagten sie, „aber dieser, der wegen des Pfarrhelfers Köchin den Verstand verloren hatte!“
Die schöne und temperamentvolle Herrenköchin habe ihn in einer schwachen Stunde am Becher der Liebe nippen lassen. Das habe in ihm den Funken der Liebe zu einer verzehrenden Flamme entzündet. Als die Köchin nichts mehr von ihm wissen wollte, war der Wysi kom­plett verrückt geworden. Die Bauern wussten nichts mehr mit ihm anzufangen. Er habe den Kopf nicht am rechten Ort. Keiner hielt ihn länger als acht Tage im Haus. Erst in der dunklen Zelle, in der Anstalt der frommen Brüder, wurde ihm der Verstand durch Schläge und Fasten wieder beigebracht. Seither hatte der Wysi nie mehr den „Cholderi“. Nur eine Gewohnheit hatte er, er kniete jeden Morgen in der Kirche im „Bettlerstuhl“. Margrit gönnte ihm diese Freude, und nach und nach verstummte das Gerede, weil es der Pfarrer so haben wollte mit dem Wysi und der Margrit.
Überall schaute Alois zum Rechten. Neidig schauten die einstigen Spötter auf das Gütchen, auf dem das Gras wieder üppig wuchs. Gegen Margrit war er zuvorkommend und besorgt wie ein Vater.
Nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den häuslichen Arbeiten kannte er sich aus. Durch mühsame Arbeit und Fleiss mehrte sich der Ertrag auf dem Mätteli. Neben dem alten „Mutsch“ stand noch eine junge Kuh im Stall, die der Wysi am Stägermarkt gekauft hatte. Vor dem Haus war bis an die Fenster eine Beige Holz aufgeschichtet, was als Wohlstand gewertet wurde. Sogar das alte, braune Häuschen wurde vom Schreiner ausgebessert. Man hörte Margrit wieder lachen, ja dann und wann klang ein Liedchen durch die offenen Fenster in den sonnigen Tag ...
Ihr Schlaf wurde nicht mehr ständig von Sorgen gestört. Sie stand zwar noch hie und da am Fenster und schaute nach den Sternen. Und oben auf dem scharfen Grat, am Laucherlückli, wo man durch das Tal hinabsieht bis weit über den See, blieb sie manchmal stehen. Da draus­sen, am Ende des Sees, wo sich die Berge verloren, dort war die Stadt ...



18.

Der „Klub der Freiheit“ hatte sich aufgelöst. Sein Fundament war zu schwach gewesen. Kaum rüttelte der Sturm an dem Gebäude, fiel es in sich zusammen. Einige Mitglieder trafen sich noch hin und wieder im Chinesenstübchen. Zu diesen Vereinzelten gehörte Menzi und der Rennfahrer Conti.
Lachend sassen sie in einer Nische, wo das verhängte Licht die Gesichter geisterhaft umhauchte. Die langen, schwarzen Haare hingen Conti über die Schläfen. Mit stark geröteten Wangen sass Menzi neben ihm.
„Du hast also nichts von ihm vernommen?“ fragte Conti und schüttelte die Haare aus dem Gesicht.
„Von wem redest du?“ schmeichelte sie und griff nach seiner Hand.
„Vom Länder, der dir immer nachgelaufen ist wie ein Hündchen.“
„Ich weiss gerade soviel wie du. Auf einmal ist er nicht mehr gekom­men. Er hat zwar nie etwas gesagt, aber ich glaube, er ist wieder in das Bergnest zurückgegangen. Ich bin froh, dass ich ihn los bin. Er passt überhaupt nicht in die Stadt. Die Eifersucht machte ihn wahnsinnig. Der soll nur wieder zu seinen Kühen. Er missgönnte mir noch das La­chen. Nachweinen werde ich ihm nicht, das kannst du mir glauben“, sagte Menzi amüsiert.
„Aber, wenn er dir wieder einmal begegnet?“
„Brauchst keine Angst zu haben, ich werde schon mit ihm fertig. Überhaupt, was bin ich ihm schuldig? Dass der Esel Lehrgeld bezahlen musste, geschieht ihm doch recht ... oder ...?“
„Einmal hast du ihn aber doch geliebt“, neckte Conti.
„Dem sagst du Liebe? Für so dumm halte ich dich dann doch nicht“, verteidigte sich Menzi. Dann senkte sie die Augen und zupfte verlegen am Halsausschnitt ihrer Bluse.
Ja, eigentlich hatte sie Franz einmal geliebt. Nach der ersten Begeg­nung hatte sie sich nach ihm gesehnt, nach dem gesunden, starken Bergler. Das stürmische Verlangen und der Glaube an Liebe und Treue, der im Herzen des Jünglings lebte, erregte ihre Sinnlichkeit, bis er weinend zu ihren Füssen lag. Wie man eine Zitrone zerquetscht, hatte sie Franz gequält mit ihren Launen, um ihn dann lachend von sich zu weisen.



19.


Lange hatte der Arzt am Bett des Kranken gestanden. Er sah, dass mit Franz etwas vorging, das nicht auf körperliche Schmerzen zurück­zuführen war.
„Guten Tag, Franz!“ grüsste der Arzt und griff nach dessen Hand. „Haben Sie gut geschlafen?“
„Mit dem Schlafen geht es schlecht, obwohl es immer Nacht ist vor meinen Augen.“
„Hatten Sie wieder mehr Schmerzen?“
„Nein, das nicht“, sagte Franz tief atmend. „Aber ..., es ist sonst et­was, das mich drückt.“
„Haben Sie Heimweh?“
Die Antwort fiel ihm schwer. Zweifel und Verlangen kämpften noch in seiner Seele. „Ach, es hat keinen Wert, davon zu reden“, sagte er und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen Vertrauen haben und den Glauben an unsere Kraft nicht verlieren“, mahnte der Arzt. „Haben Sie gar keine Verwandte oder sonst jemanden, dem Sie nahe stehen?“
Franz fuhr wieder mit der Hand über den Verband. Ja, er hatte Men­schen gehabt, an die er glaubte und die er liebte. Seine Herzenswün­sche wurden ihm gewährt. Unersättlich hatte er aus dem Becher der Liebe getrunken, den ihm Menzi gereicht hatte. Aber nun war alles verweht. Wie die Nacht, die nicht von seinen Augen wich, stand er am finsteren Abgrund ...
„Von allen, denen ich Vertrauen schenkte und an die ich glaubte, bin ich verlassen“, sagte er nach einer Weile schluchzend und vergrub den Kopf im Kissen. „Und jene Menschen, die ich verlassen habe, die werden mich nun auch vergessen haben.“
„Das können Sie nicht sagen, Franz!“ suchte ihn der Arzt zu trösten. „Die Stürme vergehen und lassen eine trübe Erinnerung zurück. Was aber ruhig und verborgen im Herzen wächst, wird gedeihen und uns Freude machen. Wenn Sie also etwas auf dem Herzen haben, dann sagen Sie es mir.“ Mit diesen Worten wandte sich der Arzt um und ging ans Bett des nächsten Patienten.
Franz wurde ruhiger. Langsam rang sich eine Erkenntnis durch. Die Nacht vor seinen Augen führte ihn zum Licht. Die Flamme der Leiden­schaft erlosch. So sehr er sich auch nach einem Menschen gesehnt hatte, weder Menzi noch seine Klubfreunde hatten ihn besucht.
Eine Woche war seit dieser Unterredung vergangen. Die Brand­wunden in seinem Gesicht waren verheilt. Neben einigen Narben war die Haut zart und rot. Nur über den Augen lag noch ein schwarzes Tuch.
Vielleicht ... ja, vielleicht ... Nein, es war niemand gekommen. Kein Mensch hatte ihn besucht oder auch nur nach ihm gefragt. Nun hatte Franz sich entschlossen. Beim nächsten Besuch wollte er dem Arzt alles erzählen, ohne etwas zu verheimlichen. Schon am nächsten Tag bot sich ihm die Gelegenheit. Franz schilderte das Leben in den Bergen. Er erzählte von Margrit und dem Onkel. Und wie er das Leben in der Stadt kennenlernte, dessen Verlockungen er nicht hatte wider­stehen können. Als er geendet hatte, fing er heftig an zu weinen, wie jemand, der alles auf eine Karte gesetzt und verloren hat. Und doch, es wurde ihm leichter ums Herz.
„Franz, Sie dürfen nicht weinen“, sagte der Arzt voll Mitleid. „Das tut den Augen nicht gut. Die Hauptsache ist, dass Sie wieder gesund werden, das andere wird sich schon finden. Sie sind jung, alles kann wieder gut werden. Suchen Sie zu vergessen ...



20.


Wochen waren vergangen. Franz sass am offenen Fenster. Mit den Händen fuhr er über den Fensterpfosten. An dem rohen Sandstein spürte er die Wärme. In den Bäumen des Parkes rauschte der Wind. Durch die dunkle Brille sah er alles trüb und verschwommen. Von sei­ner jugendlichen Frische war auf seinem Gesicht nichts mehr zu sehen. Narben durchzogen seine Wangen. Wie von Motten zerfressen standen die Augenbrauen auf seiner breiten Stirne. Seine einstige Schönheit hatte arg gelitten.
Das Läuten des Glöckleins der Hauskapelle war verklungen. „Kyrie“, tönte der Gesang an seine Ohren. Langsam erhob er sich. In der hintersten Bank kniete er nieder. Der Gesang ergriff ihn. Tränen rannen über seine zerfurchten Wangen. Morgen musste er die Kran­kenstation verlassen. Ohne Arbeit und ohne Geld musste er hinaus in den Lärm der Welt und in den Strudel des Lebens. Vor diesem Gedanken graute es ihm.
Nach dem Gottesdienst ging er hinaus in den Park. Auf dem Wege dorthin begegnete ihm der Arzt. „Sind Sie reisefertig?“ fragte er Franz.
„Ja, aber das Reiseziel ist unbestimmt. Die Fabrik hat mich ausbe­zahlt. Wo soll ich hin? Wäre es nicht besser gewesen ...?“
„Für Sie wird es schwierig, das ist wahr. Aber glauben Sie ja nicht, dass es besser wird, wenn Sie den Mut verlieren. Kommen Sie um zwei Uhr auf mein Privatzimmer. Ich will nochmals mit dem Direktor sprechen ...“
„Armer Kerl“, dachte der Arzt noch beim Weggehen und schüttelte den Kopf.
Kaum waren die zwei Schläge vom nahen Kirchturm verhallt, stand Franz vor dem Zimmer des Arztes.
„Nehmen Sie Platz ... Sie sind pünktlich!“ sagte der Arzt freundlich lä­chelnd. „Haben Sie vielleicht einen Entschluss gefasst? Oder wissen Sie immer noch nicht, wohin Sie gehen wollen ...? Am besten wäre es, wenn Sie in Ihre Heimat zurückkehren würden.“
„Das geht nicht“, lehnte sich Franz auf. „Dort bin ich doch schon längst vergessen. Lieber will ich ...“
„Aber, wenn man Ihnen alles verziehen hätte? Und vielleicht hat Margrit Sie doch nicht vergessen.“
„Wer wollte mich noch lieben“, sagte Franz traurig und schaute in den Spiegel. „Es ist zu spät.“
„Zu spät ist es nie, wenn man den Weg zum Guten einschlägt.“
„Ich meine, es ist zu spät, das wieder zu finden, was ich in meiner Verblendung von mir warf ...“
Die Türe zum Nebenzimmer wurde geöffnet. Der Arzt gab mit der Hand ein Zeichen.
Franz sprang vom Stuhle auf ... „Ist es wahr?“ sagte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte.
„Ja ..., ich bin es ..., Franz.“
„Margrit, wie kommst du hierher?“
Dann war es still ..! Zwei Menschen umarmten einander und wollten nicht mehr loslassen.
Der Arzt war aus dem Zimmer gegangen. Tränen rannen Franz über die Wangen, er weinte vor Freude. Margrit küsste seine zitternden Lippen.
Noch am selben Tag gingen sie zurück in ihre Heimat, um ein neues Leben zu beginnen.


Ende