Donnerstag, 13. Januar 2011

Hart wie Granit


  Von Josef Z'berg


1.

Der gelbe Postwagen rollte über die gepflasterte Strasse dem kleinen, am Vierwaldstättersee gelegenen Dörfchen Flüelen zu. Das Rasseln der Räder und das Klingen der Pferdeglocken tönten durch die laue Frühlingsluft. Zwischendurch knallte die Peitsche des Postillions. Die Pferde schüttelten die Köpfe und beschleunigten das Tempo. Der Kondukteur blies ins Horn, und bald darauf hielt die Kutsche vor dem „Weissen Kreuz“, dessen Inhaber auch Posthalter war.
Als die Postsachen im Büro untergebracht waren, fuhr der Wagen vor die grosse Remise. Der Lyrer Chaspi, ein alter Stallknecht, spannte die Pferde aus und trieb sie in den Stall. Als junger Bub, er war noch nicht aus der Schule, war er zum Postpferdehalter Jauch gekommen. Über den Gotthard führte damals noch der alte Saumweg. Auf dem Rücken der Pferde gestaltete sich der Transport mühsam. Handel und Verkehr nahmen zu. Der Saumweg genügte nicht mehr. Mit grossen finanziellen Mitteln für die Kantone Uri und Tessin und für den Bund wurde die schöne Alpenstrasse über den St. Gotthard gebaut. Dieser gewaltige Aufstieg hatte der alte Stallknecht noch miterlebt.
Chaspi redete mit den Tieren. Er liebte die Pferde und sie schienen seine tiefe Stimme zu verstehen. Die Pferde bewegten die Ohren, schauten nach ihm und schnüffelten an seinen Säcken, bis er ihnen ein Stück Brot oder Zucker gab. Über fünfzig Jahre war er schon beim Postpferdehalter im Dienst. In Arbeit und Freude vergingen die Tage und reihten sich zu Jahren. Es kam ihm vor, als wäre alles nur ein Augenblick. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Als er den Pferden den Hafer gegeben und das Heu gestossen hatte, setzte er sich neben die Kutscher auf der alten Bank vor dem Stall. Sie lachten und erzählten einander die Ereignisse des Tages, bis sie zum Nachtessen gerufen wurden.
Vom See her hörte man noch die Stimmen der „Seegusler“. Sie waren noch mit dem Ausladen der Nauen beschäftigt. Auch auf dem Platz vor der Sust herrschte noch reges Leben.
Das Dörfchen glich einem kleinen Hafenstädtchen. Von Norden war es mit dem Seeweg verbunden und von dort führte die breite, weisse Strasse nach dem sonnigen Süden.
Die Häuser sind niedrig und alt, mit vielen kleinen Fenstern. Im Dörfchen ist die Strasse schmal und krumm. Neben dem Kirchlein mit dem schlanken Turm steht das Schlösschen der Rudenz. Östlich davon kleben die Häuser am Abhang der Berge, wo zwischen magerem Wald einige Flecken Land hängen. Kahle Felsen türmen sich zu hohen Gipfeln, an denen da und dort eine Gletscherzunge herabhängt.
Als die Nacht über den See kam und der Wind im Schilf leiser wurde, verstummte auch im Dörfchen der Lärm. Nur noch vom Ufer her vernahm man das Plätschern der Wellen. Die Bank vor der Remise war leer. Aus dem Stall kam dann und wann ein heftiges Poltern und ein zorniger, greller Schrei eines Pferdes. Das grosse Tor der Sust wurde geschlossen. Wieder war ein Tag in die Vergangenheit versunken … Im „Weissen Kreuz“ füllte sich die Gaststube mit Fuhrknechten und Seeleuten.
„He, alter Seebär“, rief der Postillion dem eintretenden Schiffsführer zu. „Hier gibt`s noch Platz für eine Wasserratte. Was gibt`s Neues in Luzern?“
„Nichts gutes“, antwortete der graue Seemann und setzte sich auf den dargebotenen Stuhl.
„Träumte es dir letzte Nacht von Seeräubern?“ neckte ein Fuhrknecht.
„Es ist nicht zum Lachen“, sagte der Kapitän, auf dessen Gesicht sich ein bitterer Ernst bemerkbar machte. „Glaubt mir, es wird noch dazu kommen, dass die Räumlichkeiten in der Sust von der letzten Maus verlassen werden. Weder ein Sack Weizen noch ein Fass Wein wird über ihre Schwelle rollen. Die Stallungen, in denen heute mehr als hundert Pferde stehen, werden leer sein und drunten am See werden die Nauen im Wind und im Wetter zerfallen. Wo heute Wohlstand blüht, wird Not und Kummer Einzug halten. Die Zeit ist ernst. Es geht um unser Brot … Der Lärm im Lokal verstummte. Alle Augen waren auf den Schiffsführer gerichtet.
„An diese Weissagung glaube wer will“, bemerkte ein Fuhrmann lachend. „Wir lassen uns den Teufel nicht an die Wand malen. Wenn du morgen nach Luzern kommst, so sage ihnen, sie sollen uns den Buckel hinaufsteigen. Mit Märchen lassen wir uns nicht abfüttern. Solange in Italien Wein und Mais wächst, verhungern wir nicht.“
„Elendes Weibergeschwätz“, lärmte ein anderer. „Ich glaube nur noch was ich sehe.“
„Ihr könnt es glauben oder nicht“, mahnte der Schiffsführer gelassen. „Wir gehen einer schlimmen Zeit entgegen.“
„Was gibt es Schlimmes?“ fragte der Wirt, der soeben eintrat.
„Die Bahn, die nach Italien gebaut werden soll, wird uns an den Bettelstab bringen“, antwortete der Kapitän.
„Wer hat dir das gesagt?“ fragte der Wirt erschrocken.
„Gestern wurde es in der „Pfistern“ in Luzern verhandelt. Es seien schon Vorbereitungen getroffen und das nötige Kapital gezeichnet worden. Einzig die Konzession sei noch einzuholen.“
„Das hat man dir in Luzern erzählt?“ fragte der Wirt erregt.
„Ja, leider ist es so“, bemerkte der Kapitän gelassen.
Die verwetterten Gesichter der Fuhrknechte und Seemänner verfinsterten sich. Ihre Existenz, ihr ganzes Leben, sahen sie plötzlich bedroht. Gegen diesen Raub lehnten sie sich auf. Fluchen und Lärmen füllte das niedere Lokal.
„Wenn es sein muss, werden wir ihnen schon den Garaus machen“, lärmte Zwissig Ambros und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Noch gehört Grund und Boden uns. Ihr Leben lang sollen sie auf die Konzession warten, diese verdammten Faulenzer!“
„Das ist leicht gesagt“, widersprach ihm der Wirt.
„Was wird die Regierung dazu sagen?“ rief der grosse, breitschultrige Fuhrknecht Gundi, dem der Schnurrbart bis an die Ohren reichte. „Und die Bauern werden auch keine Freude haben an der Bahn.“
„Auf die Bauern können wir uns nicht verlassen“, unterbrach ihn Karli Martin, ein ergrauter Seemann. „Uns geht es an den Kragen. Und die Regierung, was weiß man? Aber am Ende ist alles ein Schwindel. Mir kann man nicht erzählen, dass sich durch unsere Berge eine Bahn bauen lässt.“
„Ohä!“ rief ihm Gundi zu. „Du hast keine Ahnung, was heute alles möglich ist. Man sollte glauben, es ginge nicht mit rechten Dingen zu. Der Teufel ist ein Schulerbub gegen diese Hexenmeister.“
„Und wenn es so ist!“ schrie Karli Martin zornig. „Wir werden ihnen schon den Meister zeigen. Noch regieren wir im Lande. Eine Bahn brauchen wir nicht. Dieser Plan muss vereitelt werden. Kapitän Joder soll uns auf dem Laufenden halten über das, was er in Luzern vernimmt.“
„Selbstverständlich werde ich das“, beteuerte der Kapitän. „Aber vorläufig soll das Gesagte unter uns bleiben.“
„Dir hat`s den Kopf schon verdreht“, neckte Zwissig den Wirt. „Schon eine Viertelstunde hocke ich beim leeren Glas. Bring mir einen Kaffee, um den Ärger hinunter zu spülen.“
„Hast recht, Brosi“, sagte der Wirt und tätschelte ihm mit der Hand auf die Schulter. „Wenn wir jetzt schon die Köpfe hängen lassen, sind wir verloren.“

2.

Mit schweren Schritten stapfte Karli Martin seinem Häuschen zu. Vom Kirchlein schlug es Mitternacht. In der Schlossberglücke stand der Mond. Er schien auf den See; die kleinen Wellen glänzten wie Silber. Aber Karli Martin sah weder den Mond noch die in Licht und Schatten sich mächtig erhebenden Berge. Die Bahn hielt seine Gedanken gefangen. Und doch, er wollte es nicht glauben. Nein, sein Nauen durfte nicht in Wind und Wetter zerfallen. Was sollte er sonst anfangen? Das kleine Heimwesen reichte nicht zum Leben. Mit dem Nauen verdiente er, was er für seine Familie brauchte. Auf Martini waren die Zinsen bezahlt. Für den Winter war gesorgt. Das Fleisch von zwei Geissen und einem Schwein hing im Rauchfang. Glücklich und zufrieden lebte Karli Martin mit den Seinen in dem alten Häuschen an der steilen Halde des Rofaien. Der Bericht von Kapitän Joder hatte nun den Frieden aus seinem Herzen verdrängt.
Karli Martin redete mit sich selbst. Er schlug mit den schweren Schuhen an die Steine, blieb dann und wann stehen und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Zu Stumpf und Stiel hätte er sie zerrieben, wenn ihm einer von diesen fremden Lumpen in die Hände gekommen wäre …
In der Stube war noch Licht. Annemarie, seine Frau sass noch am Spinnrad. Leise surrte das Rädchen und verschlang die Wolle. Karli Martin polterte in der Küche über die Steinplatten und trat in die Stube.
„Du kommst spät“, sagte Annemarie leise.
„Wenn es nie später wird, kannst du zufrieden sein“, schnauzte er sie an. „Warum gehst du nicht schlafen, wenn es dir zu langweilig ist?“
„Du weißt doch, dass ich bis Samstag dem Löwenwirt die Wolle abliefern muss, und heute ist schon Donnerstag. Und das Geld haben wir auch nötig.“
„Es reicht ja kaum für das Licht. Für die paar Batzen musst du dich Tag und Nacht abplagen. Was andere im Handumdrehen verdienen, müssen wir uns über das ganze Jahr abschuften. Und nun soll uns auch noch das Wenige gestohlen werden ...“
„Ach Karli, was ist in dich gefahren? Bis heute hatten wir zu leben. Der Herrgott sorgt für alle und mitnehmen kann man doch nichts. Was ist das kurze Leben gegenüber der Ewigkeit …?
„Ewigkeit hin oder her. Was soll ich anfangen, wenn man uns den Verdienst auf dem See wegnimmt?“
„Wer hat dir den Kopf verdreht?“ fragte die Frau verwirrt.
„Wenn es ihnen gelingt, könne wir verhungern. Das ganze Land bringen sie ins Unglück.“
„Wie meinst du das? Du musst nicht alles so tragisch nehmen und das Widerwärtige vergessen.“
„Da gibt es nichts zu vergessen. Kapitän Joder ist ein Ehrenmann.“
„So sag doch um Gotteswillen was los ist!“
„Eine Bahn wollen sie bauen bis nach Italien. Wenn ihnen das gelingt, sind wir erledigt … Kein Pfund hätten wir mit unserem Nauen zu führen. So steht die Sache heute.“
„Ach, vielleicht ist das gar nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst. Der Herrgott wird uns nicht verlassen.“
„Das geht weder den Herrgott noch den Teufel etwas an. Mit Beten allein ist es nicht getan. Oder glaubst du, wir könnten aus der Luft leben?“
„Spotte nicht. Es kommt alles wie es muss. Dem Schicksal kann man nicht entgehen.“
„Papperlapapp“, lärmte Karli Martin. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, ist immer noch ein wahres Sprichwort.“
Traurig schaute Annemarie vor sich hin und stellte das Spinnrad zur Seite. Müde wischte sie den Staub von der Schürze, dann ging sie zur Türe, die ins Schlafzimmer führte. „Es tröste und erlöse sie Gott“, sagte sie leise, tauchte zwei Finger ins Weihwasser und bespritzte den Boden. „Gelobt sei Jesus Christus!“
Mürrisch erwiderte Karli Martin den Lobspruch.
Annemarie schaute noch einmal ihren Mann an. Sie konnte es nicht fassen, diese Veränderung. Karli Martin war immer gut zu ihr. Keine Arbeit war ihm zu viel. Nie schimpfte er. Er war zufrieden. Und heute war die Ruhe aus seinem Herzen verdrängt. Zorn sprach aus seinen Augen, die in eine dunkle, ungewissse Zukunft starrten.
Müde sagte sie sich „Gute Nacht“. Annemarie löschte das Licht, dann war es still …
3.

Acht Tage später brachte das Wochenblatt die Meldung, in Luzern habe sich eine Aktiengesellschaft gegründet, um durch den Gotthard eine Bahn zu bauen.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Bahnbau. Bis in die abgelegensten Hütten drang das Gerede. Alles war in Angst und Aufregung. Im Bergvolk war der Glaube, wenn Strassen und Bahnen auf alle Berge führten, sei das Ende der Welt nahe. Wie eine finstere Macht lastete dieser Glaube auf dem Volk.
Zwei Wochen später erschien im Amtsblatt eine amtliche Mitteilung, die in jeder Kirche verlesen wurde. „Zum Entwurf der Pläne für den Bahnbau werden Ingenieure im Tal Vermessungen vornehmen. Allfälliger Kulturschaden wird von der Gesellschaft vergütet. Im Auftrag der Regierung: Der Landammann Alexander Anderfluh.“
Nach einigen Tagen kamen fremde Männer mit Instrumenten, Stangen und Latten, zeichneten und notierten sonderbare Striche, Buchstaben und Zahlen auf grosse Papierbögen. Sie schlugen Pfähle in den Boden und machten mit roter Farbe an Bäumen und Steinen Zeichen. Da und dort wurden sie von den Bauern aus dem Land getrieben. Andere gingen und entfernten in der Nacht die Pfähle und kratzten die Farbe von den Bäumen und Steinen. Das machte ihre Herzen leichter, denn sie waren der festen Überzeugung, dass sie damit den Weg für die Bahn vereitelt hätten. Misstrauisch und vergrämt standen die Frauen hinter den Fenstern und schauten verstohlen dem Treiben der fremden Männer zu.

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Die Abendsonne streifte die Gipfel der Brge. Über den See wehte ein kühler Wind. Kleine Wellen plätscherten ans Ufer. An der Schifflände in Flüelen wurde noch fleissig gearbeitet. Das grelle, trockene Gschiii … Gschiii … der schwer beladenen Schiebekarren durchbrach die Stille des Abends.
„Dass mir keiner fehlt“, rief Karli Martin den Seemännern zu, als er über den Landungssteg schritt. „Die Fuhrleute wissen es. Kapitän Joder bringt die Nachrichten aus Luzern. Ich zähle auf den letzten Mann.“
„Selbstverständlich sind wir dabei“, lärmte einer und stellte den Karren ab. „Die Bahn ist für die Faulenzer und für die Herren. Uns bringt sie um den Verdienst und die Bauern um das Land.“
Karli Martin ging zum „Weissen Kreuz“. Aus seinem braunen Gesicht sprach ein stolzer Ernst. Bei jedem Wetter und in jeder Stunde der Nacht hatte er den See befahren. Weder Sturm noch Nebel machten ihm Angst. Sicher steuerte er seinen Nauen durch die Wellen, wenn der Föhn im See wühlte.
Vor der Wirtschaft blieb er stehen und überschaute die stille Wasserfläche, über die sich die Dämmerung senkte. Karli Martin liebte den See. Seine Augen tranken sich satt, wenn sich die Sonne in ihm spiegelte, oder wenn der Mond sein bleiches Gesicht in die Wellen tauchte. Heute kam ihm der See wie ein trübes Auge vor, das vor Sehnsucht weint …
Um acht Uhr war der letzte Platz in der Wirtschaft besetzt. Braune Seeleute und treuherzig dreinschauende Fuhrknechte sassen vornübergebeugt um die Tische.
Karli Martin hatte neben Kapitän Joder und Fuhrhalter Zwicki Platz genommen. Längere Zeit waren die drei in ein eifriges Gespräch vertieft. Endlich erhob sich Karli Martin. Der Lärm verstummte. Alle Augen richteten sich auf den Seemann. Mit lauter Stimme fing er zu reden an.
„Werte Anwesende! Es freut mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Jeder weiß, was uns heute zusammenführt. Leider hat sich das bestätigt, was uns Kapitän Joder vor einigen Wochen hier erzählt hat. Mit dem Bahnbau wird nun begonnen. Durch das ganze Land auf und ab werden Vermessungen gemacht. Nicht einmal über unsern Grund und Boden sind wir Meister. Was wird uns bevorstehen, wenn die Bahn gebaut wird? Mit unserm Verdienst ist es zu Ende. Verhungern müssen wir in unserer Heimat. Alles, was heute über den See befördert wird, und von hier mit dem Fuhrwerk weitergeht, wird uns die Bahn wegnehmen. Was Kapitän Joder gesagt hat, würde sich bewahrheiten. Um alles würden wir betrogen, sogar um unsere heiligsten Rechte, um die Freiheit. Während unsere Kinder verhungern, müssten wir alten Seemänner drunten am Ufer sitzen, ohne ein Lot Ladung für unsere Nauen zu erhalten und auf den Tod warten. Und ihr alten, ergrauten Fuhrknechte müsstet wie Wegelagerer am Strassenrand lauern und die Hände nach Almosen ausstrecken. Auf Kosten von uns wollen sich diese fremden Faulenzer bereichern. Aber noch ist es Zeit, diesen teuflischen Plan zu vereiteln. Wenn wir treu zusammenhalten wie unsere Väter auf dem Rütli, haben wir nichts zu befürchten. Ich vertraue auf den letzten Mann. Die Bahn wäre unser Untergang …"
„Bravo!“ tönte es durch das Lokal. Karli Martin wischte sich den Schweiss von der Stirne. Aus innerster Überzeugung hatte er gesprochen. Nun war es ihm leichter zumute. Er glaubte an den Widerstand und an die Kraft des Volkes.
Als zweiter Redner meldete sich Kapitän Joder. Ruhig erzählte er, was er in Luzern vernommen. In der Stadt sehe es schlimm aus. Mit wenigen Ausnahmen seien alle für den Bahnbau. Die Leute versprechen sich einen gewaltigen Aufschwung in Handel und Industrie. Der Fremdenverkehr würde sich vermehren. Auch für die Bauern wäre die Bahn zum Vorteil. Land und Wald, sämtliche Besitzungen würden an Wert gewinnen. Mehr Verdienst und Geld käme ins Land.
„So redet man in der Stadt“, sagte Joder und hob die Hand zum Schwur. „Und ich halte es für meine Pflicht, euch die Wahrheit zu sagen. Die Bahn müsse kommen, heisst es in Luzern, nur könnte es sein, dass durch unseren Starrsinn das vorgesehene Projekt nicht ausgeführt werden könne. Dann wären wir für immer vom ganzen Verkehr abgeschlossen. Unsere Heimat, auf die wir heute so stolz sind, würde ein ödes, verlassenes Tal. Um ihr Brot zu verdienen, müssten unsere Kinder hinausziehen in die Fremde. Auch ohne Bahn würden nach einigen Jahren die Sust und die Pferdeställe leer sein und drunten am See würden die Nauen in Wind und Wetter zerfallen … Dem technischen Fortschritt vermöge auch das stärkste Volk auf die Dauer den Weg nicht zu versperren …"
Fluchen und Stampfen übertönten seine Worte. „Lügner … Verräter … Werft ihn hinaus! Joder, du bist bestochen worden. Noch keinen Monat ist es her, seit du hier gesagt hast, die Bahn würde uns an den Bettelstab bringen. Und heute willst du uns an diese Schelme ausliefern. Schämen solltest du dich in Grund und Boden. Du bist nicht wert, dass du dieses Tal deine Heimat nennst. Deine Rechnung ist falsch und verlogen, wie die der Luzerner.“
Drohende Fäuste erhoben sich. Gläser klirrten und fielen zu Boden. Mit erhobenen Händen stellte sich der Wirt vor die erregten Männer. „Nehmt doch Vernunft an. So kommen wir zu keinem Ergebnis. Die Sache ist viel zu ernst. Wir müssen uns mit den Tatsachen abfinden. Joder ist kein Verräter.“
Die mahnenden Worte des Wirtes hatten gewirkt. Der Lärm verstummte. Nur dann und wann fuhr noch ein böses Wort durch das Lokal. „Beim Eid …“
Joder senkte den Kopf. Die Worte taten ihm weh. Nein, er war kein Verräter. Er liebte das Volk seiner Heimat. Kein Opfer war ihm zuviel. Aber er zürnte ihnen nicht, auch wenn sie über ihn schimpften. Sie taten ihm leid, die schlichten Männer, die sich vor Angst und Hass nicht zu helfen wussten.
„Glaubt es mir“, fing Joder wieder an. „Auch ich bin kein Freund der Bahn. Es ist aber meine Pflicht, euch zu sagen, was wir von Luzern zu erwarten haben. Auch ich bin um das Wohl von euch und euren Kindern besorgt.“
Joder durchforschte die Männer. Das Misstrauen schien aus ihren Gesichtern verschwunden zu sein. Einige Seemänner lachten ihm sogar zu. Karli Martin neigte den Kopf und flüsterte Joder etwas ins Ohr. Langsam erhob sich der graue Seemann. Mächtig tönte seine Stimme durch die Gaststube.
„An den Ausführungen von Kapitän Joder zweifle ich keinen Augenblick. Aber eines sage ich euch, was sich die Herren in der Stadt von der Bahn versprechen, kommt für uns Talbewohner nicht in Frage. Ausser dem Verdienst wird uns die Bahn auch noch die Freiheit rauben. Unter dem Einfluss der Fremden werden wir unsere Heimat verlieren. Uneinigkeit wird in unserem Tal Einzug halten. Aber noch ist es in unserer Macht, das Unglück zu verhüten. Die Landsgemeinde hat darüber zu entscheiden. Zeigen wir ihnen, wer hier regiert.“ Mit diesen Worten schloss Karli Martin seine Rede. Und wieder rauschte ein mächtiges „Bravo“ durch das Lokal …

4.

Alexander Anderfluh, der regierende Landammann, ging nachsinnend in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Seine grosse Gestalt und sein bedachtes Auftreten hatten etwas Würdevolles.
Alexander war ein angesehener Staatsmann. Er war keine dreissig Jahre alt gewesen, als ihm die Talbewohner die höchste Würde des Landes übertrugen. Mit Ruhe und Besonnenheit leitete er die Geschicke des Volkes. Jede Meinungsverschiedenheit wusste er zu schlichten. Der Landammann schaute auf eine Anzahl friedliche, segensreiche Regierungsjahre zurück.
Er liebte seine Heimat und das von Arbeit und Wetter abgehärtete Volk der Berge. Städte und Sitten fremder Völker hatte er gesehen und kennen gelernt. Aber die Schluchten und Wälder, die grünenden Wiesen und die mit ewigem Schnee bedeckten Berge seiner Heimat hätte er mit der ganzen Pracht der Welt nicht vertauscht. Schöner als alle Paläste erschienen ihm die halbzerfallenen Burgen seiner Ahnen.
Seit Menschengedenken waren die Anderfluh die führenden Männer im Tal. Wie in einer Dynastie übernahm der Sohn die Ämter vom Vater. Auch Alexander wollte das Erbe seiner Väter für seine Nachkommen sichern. Klug hatte er alles vorbereitet, und doch, heute stimmte ihn dieser Gedanke traurig. Rudolf und Werner, seine beiden Söhne, waren noch Kinder, und schon machte sich bei ihm das Alter bemerkbar. Wie Nebelstreifen durchzog das Grau seine blonden Haare. Arbeit und Ämter hatten in seinem Herzen das Verlangen nach Liebe zurückgedrängt. Als er heiratete war er über vierzig Jahre alt gewesen. Nun war er grau und seine Söhne waren noch Kinder.
Als er eine Zeit lang so hin und her gelaufen war, setzte er sich an den Schreibtisch und überschaute den Berg von Briefen und Akten. Erst jetzt bemerkte er die Rosen, die ihm seine Frau auf den Tisch gestellt hatte. In letzter Zeit hatte er sich wenig seiner Familie widmen können. Die Geschäfte nahmen ihn ganz in Anspruch. So kam es, dass für ihn der Frühling unbeachtet Einzug hielt. Erst die Rosen erinnerten ihn an das neue Leben, das in der Natur erwacht war.
Sein Blick fiel auf eine Karte. Der Bruder seiner Frau teilte ihm mit, dass er morgen heimkomme. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Alexander setzte grosse Hoffnungen auf seinen jungen Schwager. Das Geld, das er für dessen Studien ausgegeben hatte, glaubte er gut investiert zu haben. Kaspar Imholz hatte das juristische Examen mit bestem Erfolg bestanden. Imholz sollte sein Nachfolger werden, bis einer von seinen Söhnen die Geschicke des Landes übernehmen konnte. Einstweilen sollte er in seinem Haus ein Anwaltsbüro eröffnen. Das alles kam ihm jetzt in den Sinn. Mit Vertrauen schaute er in die Zukunft. Die Gedanken an den Frühling und die Hoffnung, die er in Kaspar setzte, stimmten ihn froh und liessen ihn die Geschäfte für einen Augenblick vergessen.
Aus dem Garten vernahm er frohes Kinderlachen. Er ging ans Fenster. Im Park spielten seine zwei Knaben. Auf einer Bank sass Albertina, seine Frau, mit einer Handarbeit. Der Wind spielte mit ihren blonden Haaren. Ihr Gesicht war gezeichnet durch die Anmut einer glücklichen Frau. Dann und wann hob sie ihren Blick von der Arbeit und betrachtete die Kinder. So jung sie waren, zeigte sich doch schon ein Unterschied in ihrem Wesen. Werner, der Ältere, war ein stiller, unersättlicher Frager, der die Spielsachen auseinander nahm, um zu schauen, wie sie im Innern aussahen. Rudolf hingegen war wild und leicht zum Zorn geneigt. Nur kurze Zeit konnte er sich mit etwas befassen, dann warf er es weg, was der Mutter hin und wieder Kummer bereitete. Aber Albertina liebte sie beide und suchte für jeden nach seinem Wesen das Beste zu tun.
Als Alexander eine Zeit lang dem Spiel der Knaben zugeschaut hatte, klatschte er in die Hände.
Die Knaben liessen ihr Spielzeug fallen und schauten nach dem Fenster. „Vater, komm doch auch in den Garten“, rief Werner. „Hörst du die Vögel singen? Es ist Frühling.“
„Ich muss arbeiten, Ich habe keine Zeit.“
„Warum musst du immer arbeiten?“ fragte Werner betrübt, und wandte sich an die Mutter. „Hat der Vater keine Freude am Frühling, dass er den ganzen Tag arbeitet, ohne ein einziges Mal in den Garten zu kommen?“
„Ach, das verstehst du noch nicht“, versuchte ihn die Mutter zu trösten. „Der Vater hat auch Freude am Frühling, aber die Geschäfte lassen ihm keine Zeit.“ Albertina senkte den Kopf. Schmerz legte sich auf ihr Herz und zog wie ein Schatten über ihr Gesicht. Wenn sie nach aussen auch nichts verraten liess, so hatte sie doch in letzter Zeit unter der geschäftlichen Inanspruchnahme Alexanders gelitten. Jede Minute war eingeteilt, um die amtlichen Geschäfte zu erledigen. Alexander hielt auf Pünktlichkeit. Nie wurde eine Frist verpasst oder ein Beschluss zu spät bekannt gegeben. Lieber opferte er seinen Schlaf. Bis weit über die engere Heimat hatte er sich Ehre und Ansehen verschafft.
Albertina nahm Werners Hand und strich ihm über die Locken. Der Knabe kämpfte gegen das Weinen. „Komm doch einen Augenblick zu uns“, wandte sie sich an ihren Mann. „Gönne dir uns zu lieb einmal eine halbe Stunde. Morgen kommt mein Bruder. An ihm hast du dann eine gute, treue Hilfe.“
Alexander überlegte sich das. Es wartete noch sehr viel Arbeit auf Erledigung, aber der Vorwurf traf ihn, dass er in letzter Zeit seine Familie fast vergessen hatte. Die Bahn gab ihm soviel zu denken und zu tun. Fuhrhalter, Bauern und Seeleute kamen jeden Tag zu ihm, um seinen Rat zu hören. Oft hatte er Mühe, die erregten Männer zu beruhigen, die in der Bahn ein Landesunglück sahen. Heute wollte er für kurze Zeit das Regieren vergessen. Auch als Mann und Vater hatte er seine Pflichten. Frau und Kinder hatten auch ein Anrecht, dass er ihnen eine Stunde schenkte. Im Garten setzte er sich neben Albertina. Voll Freude schmiegten sich die Knaben an Vaters Knie. Dann ging es an ein Fragen und Erzählen. Eine innige Zärtlichkeit verband die Familie. Viel zu schnell vergingen die Stunden. Die Sonne neigte sich dem Gitschen zu, als sich Alexander erhob und die Knaben küsste. „So, für heute müsst ihr mit mir zufrieden sein“, sagte er lachend und reichte Albertina die Hand.
Erleichtert setzte sich Alexander an den Schreibtisch. Die Ankunft von seinem Schwager gab ihm die Gewissheit, dass er nun wieder mehr für seine Familie leben konnte. Und zudem brauchte er sich keine trüben Gedanken zu machen wegen eines Nachfolgers. Kaspar Imholz besass die Fähigkeiten. Auch das Vertrauen des Volkes würde ihm gesichert sein.
Bis dahin war im Tal alles ruhig und still vor sich gegangen. Kein Misston und keine Stimme des Volkes hatten die Ausführungen und Beschlüsse der Regierung gestört. Aber nun hatte der Bahnbau die Gemüter in ihrer Ruhe erschreckt. Auch das wird vorübergehen, sagte sich Alexander. Noch nie hatte sich das Volk gegen den Willen der Anderfluh aufgelehnt.
Der Landammann war immer noch in solche Gedanken vertieft, als es an der Türe klopfte. Auf das kräftige „Herein“ trat Fürsprech Ambach in das Arbeitszimmer.
„Was führt dich zu mir?“ wandte sich der Landammann an ihn, als sie sich freundlich begrüsst hatten.
„Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit“, gab dieser zur Antwort.
Der Fürsprech war ein kleines Männlein. Sein Gesicht war glatt wie ein Spiegel. Ein verschmitztes Lächeln spielte um seinen Mund. Energie sprach aus seinen blauen Augen. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her, dann hob er wieder an.
„Drunten in Flüelen haben die Fuhrknechte und die Seeleute eine Versammlung abgehalten. Sie haben beschlossen, alles zu tun, um die Bahn zu verhindern. Karli Martin hat das grosse Wort geführt. Diesen Quertreibern müssen wir das Handwerk legen, bevor es zu spät ist. Oder was meinst du?“
„Du machst dir viel zu grosse Sorgen“, sagte Alexander ruhig. „Wenn es Zeit ist, werde ich schon reden. Das Volk hat mich noch nie im Stich gelassen. Auch für die Bahn habe ich keine Angst. Es braucht Geduld und Aufklärung.“
„Das ist alles schön und recht. Aber wie steht es mit der Subvention? Eine Million.“
„Es ist viel Geld für ein armes Volk, aber wenn es nicht anders geht, so wird es auch dieses Opfer bringen“, erklärte Alexander zuversichtlich.
„Der Hass gegen die Bahn frisst sich immer tiefer, bis wir am Ende machtlos sind.“
„Das sind die ersten Stürme, sie werden verwehen und bald der Vergangenheit angehören“, tröstete ihn der Landammann. „Wenn wir die Gegenwart erkennen, brauchen wir vor der Zukunft keine Angst zu haben.“
Dankend schüttelte Ambach dem Landammann die Hand. „Hoffen wir also das Beste. Wenn du mich brauchst, so rufe mich. Ich stehe zu jeder Zeit zu deinen Diensten. Auf Wiedersehen!“
„Lebwohl!“

5.

Der Morgen war schön. Über die westlichen Berge kam die Sonne. Die Helle ergoss sich über die dunklen Wälder und über die schwarzen, zerklüfteten Felsen, die den See umgaben.
An den Abhängen, wo steiniges Land das Ufer umsäumt, stehen kleine, braune Häuser. Zwischen Buchten und Mulden liegen halbverborgen alte Dörfchen wie abgeschlossene Welten voll Ruhe und Frieden.
Der schwer beladene Nauen glitt über den blauen See. Karli Martin stand am Steuer. Er starrte in den See. Weiter als die Blicke trugen ihn die Gedanken. Sie gingen mit ihm über die glatte Wasseroberfläche. Er dachte an die Zukunft, an die Bahn. Dunkel und ungewiss erschien im die kommende Zeit.
„Vater, das Morgenessen ist bereit“, rief sein Sohn aus der Luke.
„Ich mag nicht“, schnauzte Karli Martin und kehrte sich gegen die Sonne.
„Was hast du, ist dir nicht wohl?“ fragte der Sohn.
„Frag nicht so dumm!“ schrie er zornig. „Oder glaubst du etwa, das Essen vergehe mir nicht, wenn ich sehe, dass uns das Brot vom Munde weggestohlen wird?“
„Meinst du die Bahn? Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst. An der Bahn brauchen sie auch Arbeiter.“
Karli Marti sperrte die Augen auf. Voll Zorn umklammerte er das Steuer. Auf einmal erhob er die Arme und sprang vor die Luke. „Zum Teufel noch mal“, tobte er. „Ist es schon soweit mit dir? Glaubst du, ich würde mich diesen Lumpen verkaufen? Lieber springe ich in den See, wo er am tiefsten ist."
Dumpf kam das Echo von den Felsen und verlor sich weit draussen auf dem See. „Haben sie dir schon den Kopf verdreht, die verdammten Faulenzer? Muss ich das an dir erleben? Es wäre mir lieber, ich wüsste dich tot auf dem Grunde des Sees, als in den Klauen dieser Schurken, die uns die Heimat stehlen.“
„Vater, du siehst zu schwarz“, mahnte der Sohn. „Auch unser Handwerk ist kein rosiges. Um unser Leben zu fristen, müssen wir vom frühen Morgen bis spät in die Nacht den See befahren. Schon viele von unsern Kollegen wurden vom Sturm verschlungen. Mit der täglichen Last schleppen wir uns über ihr feuchtes Grab, ohne an ihr Schicksal zu denken. Die Härte des Lebens macht unsere Herzen zu Stein. Vater, wir müssen uns der Zeit anpassen, sonst gehen wir an unserem Starrsinn zugrunde.“
Franzsepp war aus der Luke gestiegen und stand neben dem Vater, der das Steuer wieder ergriffen hatte. Der Junge war von grossem Wuchs. Schwarze Locken bedeckten seine breite Stirne. Voll Kraft und Schönheit stand er vor Karli Martin und schaute ihm unerschrocken in die Augen.
„So reden die Herren“, schrie Karli Martin voll Zorn, „aber kein armer Teufel. Glaubst du etwa, du könntest die Hände in den Schoss legen, wenn die Bahn kommt? Und die gebratenen Tauben würden dir in den Mund fliegen? Solcher Blödsinn bilde dir nicht ein. Verhungern kannst du dann. Unser Handwerk ist noch tausendmal besser, als ein Knecht von diesen Herren zu sein. Wir sind wenigstens noch selber Herr und Meister. Freiheit ist mehr wert als Geld.“
Karli Martin starrte wieder in den See. Zwischen ihm und seinem Sohn hatte sich eine tiefe Kluft aufgetan. Aber noch hatte er zu befehlen. Zornig richtete er sich auf und zeigte gen Himmel. „Der Herrgott möge es mir verzeihen“, schrie er. „Du bist nicht mehr wert, mein Sohn zu sein. Keinen Tag dulde ich dich länger unter meinem Dach. Hast du mich verstanden? Wer für diese Fremden ist, der ist gegen mich. Kein Wort will ich mehr hören. Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, Bub!“ schrie er wie ein Wilder. „Du wirst noch an mich denken ...“
Franzsepp stieg durch die Luke in den dunklen Schiffsraum. Traurig setzte er sich auf die schmale Bank. Auch ihm war es nicht mehr ums Essen. Aber zürnen konnte er dem Vater nicht. Es tat ihm leid, dass es soweit gekommen war. Bis heute hatte er sich gegen die Eltern nichts zuschulden kommen lassen. Seit er helfen konnte, ging er mit dem Vater auf den See. Er liebte die Eltern, den See und die Heimat. Nun sollte er alles verlieren? Das schmerzte sein junges Herz. Eine Träne rann über seine Wange. Der Tag wollte nicht zu Ende gehen. Wenn er dem Vater zuschaute, wie er mit verbissenen Lippen am Steuer stand, schmerzte es ihn am Hals. Es war ihm, als müsste er ersticken. Das Zerwürfnis kam völlig unerwartet, zerstörte jede Hoffnung und stellte ihn vor eine ungewisse Zukunft. Und doch, wer wollte heute schon sagen, wer Recht hatte? Die Gegner oder die Befürworter der Bahn? Das Volk klammerte sich an das Alte. Das Neue, die Bahn, war ihnen verhasst …
Über das kleine Dörfchen hatte sich die Nacht gesenkt, als sie den Nauen am Landungssteg festmachten. Ein kühler Wind strich über den See. Leise sang er im Schilf. Kleine Wellen schlugen ans Ufer, deren Stimmen sich stets wiederholten. Wie mit einer schweren Last beladen gingen Karli Martin und sein Sohn ohne ein Wort zu reden auf das kleine Häuschen zu …
Schlaflos verbrachte Franzsepp die Nacht. Als der Morgen graute, verliess er das Elternhaus, um unter fremden Menschen sein Brot zu verdienen. Annemarie, seine Mutter, weinte. Sie bekreuzigte ihn und küsste seine Stirne. Bis er im Wald verschwand schaute sie ihm nach …

6.

Im Hause des Landammann wurden die Fensterläden geöffnet. Kaspar Imholz, ein grosser, schlanker Mann, trat ans Fenster. Sein Gesicht war bleich. Selbständigkeit, mit ein wenig Stolz und Eigenwilligkeit gepaart, sprachen aus seinen Gesichtszügen.
Über die Berge kam die Sonne. Im Garten sangen die Vögel. Schwer beladene Wagen rollten über die Strasse, vom Aufschlagen der Hufe und vom Klingen der Pferdeglocken begleitet. Nachsinnend schaute Kaspar in den blauen Morgenhimmel. Die Gedanken trugen ihn zurück in vergangene Tage. Seine Kollegen hatten ihm beim Abschied eine erfolgreiche Zukunft gewünscht. Ja, durch die Studien, die ihm Alexander ermöglichte, war seine Zukunft gesichert. Verdienst und Ämter warteten seiner. Ein viel versprechender Lebensweg hatte ihm Alexander gewiesen, und doch lag ein Schatten auf seinem Gemüt und trübte seine Gedanken … Der Landammann, und auch seine eigene Schwester, gaben ihm von Zeit zu Zeit zu verstehen, dass er alles, was er heute sei, ihnen zu verdanken habe. Und Kaspar konnte ihnen dieses nicht absprechen. Was wäre, wenn ihm Alexander nicht geholfen hätte? Droben in dem kleinen Bergdorf unter dem Clariden, wo er die Ziegen gehütet hatte, würde er jetzt verkümmern. Die Abhängigkeit, in die ihn Alexanders Entgegenkommen gebracht hatte, wurde ihm erst jetzt in ihrer vollen Konsequenz bewusst. Sein Denken und Handeln waren gehemmt. Er hatte sich verkauft. Was nützten ihm Ruhm und Ämter, wenn er nicht reden durfte, was er dachte? Sollte er eine Meinung vortäuschen, die er im Grunde verabscheute …?
Dieses Gebundensein bereitete ihm ein grosses Problem. Widersprüche regten sich in ihm. Als er das Tal verliess, kümmerte er sich wenig um das öffentliche Leben. Heute sah er alles anders. Kaum ein halbes Dutzend Männer regierten das Tal. Eigentlich war es nur ein Einzelner, der das Volk unter seinen Willen zwang, Alexander Anderfluh, der regierende Landammann. Und doch, das Volk hielt treu zu ihm. Wer etwas anderes sagte, war ein Lügner. Jeden ersten Sonntag im Mai wurde Alexander von den Talbewohnern als Landammann bestätigt. Nicht eine einzige Stimme erhob sich gegen ihn. Vor und nach der Landsgemeinde wurde hin und wieder bei einem Glas Wein der Eigenwillen des Landammanns bekrittelt. Offen getrauten aber nur zwei gegen Alexander aufzutreten, der alte Mieseler und der Bärenwirt. Dieses einseitige und eigenmächtige Regieren und das stumme Dulden gab dem jungen Anwalt zu denken und machte ihn traurig. Noch einmal schaute er hinauf zum Schwarzengrat und zum Rinderstock, die von der Sonne in goldenen Farben beschienen wurden.
Kaspar Imholz setzte sich an den Schreibtisch. Er stützte den Kopf in die Hände. Es war ihm nicht ums Arbeiten. Er konnte von den Gedanken nicht loskommen. Immer sah er die gebückten Bauern mit den krummen Rücken, die mühsam dem harten, steinigen Boden ein spärliches Dasein abrangen.
Einmal könnte es anders kommen, sagte sich Kaspar. Es war der neue Geist, den er wie einen frischen Windhauch durchs Tal wehen fühlte. Mit der Bahn müsste er sich durchsetzen …
Alexander war für einige Tage verreist. Albertina war die Veränderung ihres Bruders nicht entgangen. Auch Alexander hatte sich schon bei ihr darüber beklagt. Das tat ihr weh. Beim Mittagessen fragte sie den Bruder: „Was hast du? Gefällt es dir nicht mehr in deiner Heimat?“
„Im Gegenteil“, verteidigte sich Kaspar energisch. „Ich fühle mich immer inniger mit der Heimat und dem Volk verbunden. Aber leider gibt es Menschen, die uns die Freude an der Heimat trüben.“
„Wie meinst du das?“ Fragte Albertina gereizt.
„Weil von gewissen Leuten alles getan wird, um dem Volk ihren Willen aufzuzwingen und die freiheitlichen Rechte zu schmälern.“
„Das bildest du dir ein“, behauptete Albertina energisch. „Das Volk ist heute so zufrieden wie früher. Und an der Freiheit fehlt es ihm nicht.“
„Zwei, drei Männer regieren das ganze Volk. Sagt man dem Freiheit?“
„Du versuchst etwas zu behaupten, was der Wahrheit nicht entspricht. Jeden ersten Sonntag im Mai wählt das Volk die Regierung. Gibt es eine grössere Freiheit?“
„Sehr richtig. Aber?“
„Was?“ fiel ihm Albertina ins Wort. „Das Leben in der Stadt hat dir den Kopf verdreht. Alexander hat sich wegen deinen verschrobenen Ansichten auch schon beklagt.“
„So ist es“, sagte Kaspar betrübt. „Wer nicht zu allem Ja und Amen sagt, hat es mit ihm verspielt.“ Er schob den Teller zur Seite und verliess das Zimmer.
Traurig schaute ihm Albertina nach, Voll Hoffnung und Freude hatte sie den Tag erwartet, an dem ihr Bruder ins Haus kam. Alles hatte sie getan, um ihm ein angenehmes Heim zu bereiten. Sollte nun alles umsonst sein …? Nein, Albertina wollte es nicht glauben. Vielleicht war Kaspar einfach schlechter Laune. Oder er hatte geschäftliche Sorgen. Sie nahm sich vor, Alexander von dem unliebsamen Ereignis nichts zu erzählen. Sie war der festen Überzeugung, dass sich alles zum Guten wenden würde und Kaspar zur Einsicht komme, dass er auf dem falschen Weg sei. Schnöder Undank wäre es, wenn Kaspar auf seiner feindlichen Einstellung beharren würde.
Fünf Minuten später sass Kaspar im „Bären“, Hier fühlte er sich freier, wenn sich der Wirt zu ihm setzte und sie sich über die wirtschaftlichen und politischen Zustände aussprachen. Der Bärenwirt war einer von den wenigen, der sich getraute, dem eigenmächtigen Regieren Alexanders entgegen zu treten. Schon an einigen Landsgemeinden hatte er gegen die Anträge des Landammanns geredet. Aber ausser dem alten Mieseler erhob keiner die Hand für die Anträge des Bärenwirts. Er wurde vom Volk nicht ernst genommen, denn es hiess allgemein, er sei ein Soldatenschinder. Das genügte, um ihn verhasst zu machen. Von einem solchen Gegner hatte Alexander nichts zu befürchten. Auch Kaspar Imholz wusste,, wie sich das Volk zum Wirt stellte, aber ihm gefiel die freie Meinung, mit der er gegen die Regierung Opposition machte. Das war es, was Kaspar zu dem um viele  Jahre älteren Bärenwirt hinzog. Hier konnte der junge Anwalt seine Meinung frei und ungebunden zum Ausdruck bringen. Heute sass er in einer Ecke und schaute nachsinnend vor sich hin. Die Auseinandersetzung mit seiner Schwester gab ihm zu denken. Er hasste den Streit, aber um der Wahrheit willen musste er den Kampf aufnehmen. Für das freie Wort, für seine Überzeugung wollte er einstehen, trotz allen Gefahren und Hindernissen, denen er sich aussetzte. Unerschrocken schaute er in die Zukunft …

7.

Müde setzte sich Franzsepp an den Strassenrand. Die Habseligkeiten, die ihm die Mutter in einem alten Reisesack mitgegeben hatte, lagen zerstreut neben ihm. In der Tasche hatte er einen kleinen Geldbeutel mit fünf Franken, die ihm die Mutter heimlich zugesteckt hatte. Auf der Brust trug er das silberne Kreuzchen. Auch das hatte ihm die Mutter umgehängt. Er solle sich nie davon trennen, es werde ihm Glück bringen. Diese Worte kamen ihm immer wieder in den Sinn. Er griff an die Brust und betastete das silberne Kreuz. Befriedigt steckte er es wieder unter das Hemd.
Die Sonne war erloschen. Franzsepp schaute über die weisse Landstrasse im engen Tal mit dem schäumenden Bach, dem Steingeröll und den schroffen Felsen. Schmale Landstreifen klebten wie zerrissene grüne Tücher zwischen Steinen und spärlichem Wald.
Plötzlich überkam ihn die Verlassenheit und ein noch nie empfundener Schmerz. In dieser Stimmung wurde ihm bewusst, dass er glücklich gewesen war. Bis zu jenem Tag, an welchem das Gerücht von der Bahn ins Tal kam, war alles gut gegangen. Die Arbeit auf dem Nauen wurde jeden Morgen mit Freuden begonnen, und die schlichte Mahlzeit schmeckte ihm. Franzsepp kannte nur die tägliche, vom Wetter abhängige Arbeit. Alles wurde gelassen hingenommen, was von einer höheren Macht beschieden war. Nichts kam von ungefähr. In diesem Glauben war Franzsepp erzogen worden. Bis heute hatte er ihm nachgelebt. Warum hatte es so kommen müssen? Wäre es vielleicht besser gewesen, er hätte dem Vater nicht widersprochen? Die Mutter wird um ihn weinen, das wusste er. Aber ein Unrecht war es sicher nicht, eine eigene Meinung zu haben. Wer könnte heute schon sagen, ob die Bahn zum Nutzen oder zum Nachteil des Volkes sein würde? Am Ende würde die Bahn doch erstellt, trotz allen Sträubens der Talbewohner. So hatte es jedenfalls Kapitän Joder gesagt …
Während Franzsepp so ins Nachsinnen versunken war, trabten einige Fuhrwerke an ihm vorbei. Der Strassenstaub umwirbelte ihn. Hunger und Durst machten sich bemerkbar. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen. Da und dort an einem Bächlein hatte er Wasser getrunken. Müdigkeit hatte sich schon längst an seine Glieder gehängt. Nach einer Weile raffte er sich auf und ging bergan.
Es war Nacht, als Franzsepp in das Dörfchen Göschenen kam. Die von Felsen umschlossene Ortschaft bildet den Abschluss des Tales. Von dort führt die Strasse über den Berg, der das Tal vom Süden trennt.
Die Reuss, sie sich schäumend zwischen den Granitblöcken hindurch windet, führt einen kühlen Wind mit sich, der nach Schnee und Gletscher riecht. Wie Riesenschildkröten kauern schwarze Häuschen an der Strasse und an den Abhängen. Vor einer Baracke blieb Franzsepp stehen. Aus der halboffenen Türe roch es nach Braten, scharfen Gewürzen und süssem Wein.
Lachen und lautes Reden wurde von den grellen Tönen einer Handharmonika überschrieen. Nach kurzem Besinnen tastete er nach der Türe und trat ein. Eine alte Lampe gab dem Raum spärliches Licht. Um Tische aus rohem Holz sassen italienische Arbeiter. Die schwarzen Haare hingen ihnen über die Stirne und gaben ihnen einen verwegenen Ausdruck. Einige schlürften aus runden, roten Schüsseln Minestra. Andere hatten ein Glas Wein oder eine Flasche Bier vor sich. Fünf, sechs kauerten an den Wänden und rauchten aus Gipspfeifen. Eine niedere Wand trennte den Raum. Dahinter hockten einige dicke Männer bei Wein und Braten. Ihre Gesichter waren glänzendrot, als müssten sie zerspringen. Es waren Roni und Palini, die Unternehmer, die die Strasse über den Berg auszubessern hatten. An einem schmutzigen Herd hantierte eine ältere Frau. Unter der Lampe lehnte ein blasses Mädchen an einem Tisch. Das schwache Licht fiel auf sein Gesicht. Müde schaute es nach dem neuen unbekannten Gast.
„Diana“, rief ein Italiener, als sich das Mädchen an Franzsepp wenden wollte. „Bring mir eine Flasche Bier. Oder habe ich nicht mehr soviel Kredit?“ Zornig schlug der Neapolitaner mit der leeren Flasche auf den Tisch.
Franzsepp wurde es unheimlich zumute. Er wollte umkehren, aber der Hunger hielt ihn zurück. In der Nähe der Lampe setzte er sich an einen Tisch. Bald hatte er eine Schüssel voll Suppe und ein Stück Brot vor sich und fing an, seinen Hunger zu stillen.
Das Kreischen der Handharmonika und der Lärm der Arbeiter füllten den Raum bis in den äussersten Winkel. Als Franzsepp den Löffel ablegte, trafen ihn Dianas Blicke. Fragend hafteten die schwarzen Augen auf ihm.
Als er bezahlt hatte, strich er der Wand entlang, hinter der die dicken Männer sassen. Franzsepp lehnte sich an die Brüstung. Einen Augenblick besann er sich, dann fragte er: „Gibt es hier Arbeit?“
Einer der Männer antwortete ihm in gebrochenem Deutsch, dass er morgen um sechs Uhr in der Baracke warten solle, bis der Vorarbeiter komme. Arbeit gäbe es genug. Auf einen Zettel schrieb er einige Worte. Das Schreiben solle er dem Vorarbeiter abgeben.
Franzsepp stand wieder auf der Strasse. Die Eindrücke in der Baracke waren keine besonders freudigen. Aber er hatte Arbeit gefunden, das beruhigte ihn. Bald kam er in den Wald. Ein paar Schritte neben der Strasse stand eine alte Kappelle, über die eine Tanne ihre Äste ausbreitete. Unter dem Vordach gab es zwei Bänke. Hunderte von Namen waren in das vom Wurm zerlöcherte Holz eingekerbt. Die Wände der Kappelle waren bis unter das Dach überschrieben. Franzsepp legte sich auf die Bank und bettete das Bündel seiner Habseligkeiten unter den Kopf.
Lange fand er keinen Schlaf. Die Gedanken an die Zukunft liessen ihn nicht zur Ruhe kommen. Als der Morgen graute, erhob er sich von seinem harten Lager. Vor dem Muttergottesbild, das auf dem Altar stand, kniete er nieder und betete.
Vor der Baracke standen schon ein paar Italiener. Der schwarze Neapolitaner mit den langen Haaren und dem finsteren, verwegenen Blick kauerte auf einem Stein und blinzelte nach Franzsepp.
Sobald die Türe aufging, drängten alle hinein. Franzsepp war der letzte. Das Morgenessen nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die meisten tranken zwei, drei Schnäpse. Nur einige jüngere Burschen bestellten einen Kaffee. Auch Franzsepp verlangte eine Tasse. Der Kaffee war schlecht. Er trank ihn nur mit Widerwillen.
Jeder Arbeiter hatte ein Büchlein, in das Diana den schuldigen Betrag einschrieb. „Arbeiten Sie auch bei Roni und Palini?“ fragte sie Franzsepp.
„Ja, ich fange heute an“, gab er zur Antwort.
Diana fragte ihn nach seinem Namen und eröffnete das Schuldenbüchlein. Nun war auch Franzsepp am Unternehmen von Roni und Palini beteiligt. Einige Minuten später stand er auf dem Werkplatz, wo der Vorarbeiter mit dem Appell begonnen hatte. Als alle aufgerufen waren, meldete sich Franzsepp. Der Vorarbeiter musterte ihn von unten bis oben, stellte einige Fragen und kratzte den Namen ins Register.
Die Arbeiter wurden auf verschiedene Plätze verteilt. Sie waren in Gruppen geordnet. Franzsepp kam zur Transportgruppe. Auf Rollwagen hatten sie das Material heranzuschaffen und den Aushub wegzuräumen. Die Rollwagen wurden am laufenden Band geladen und abgeschoben. Alles war so organisiert, dass keiner auf den andern warten musste. Nur wenn einmal ein Wagen entgleiste gab es eine Stockung, die aber rasch behoben wurde.
Franzsepp hatte sich schnell in die neue Tätigkeit eingelebt. Die Arbeit nahm ihn ganz in Anspruch. Schnell vergingen die Tage. Nur die Abende in der Baracke machten ihn traurig und weckten in ihm das Heimweh. Alles kam ihm wieder in den Sinn. Er musste an seine Mutter denken. Im Geiste sah er den See, und es war ihm, als würde ihn der Nauen über die sanften Wogen dahin tragen. Wenn er die Suppe gegessen hatte, verliess er die Hütte und setzte sich an die Strasse. Die Fuhrknechte grüssten ihn. Der eine oder andere redete mit ihm und erzählte, was sich in Flüelen ereignete.
Bei der Rien Kathri hatte er endlich ein Zimmer bekommen. Die Kathri sorgte für ihn wie für ihre eigenen Kinder. Das erleichterte ihm das Leben. Dann und wann brachte ihm ein Fuhrknecht einen Gruss von seiner Mutter. Das war alles, was er von zuhause vernahm. Karli Martin wollte nichts mehr wissen von seinem Sohn. Franzsepp blieb verstossen. Eltern und Vaterhaus, die ihm einst so lieb waren, hatte er verloren …
8.

Die Vermessungen für den Bahnbau gingen rasch vor sich. Auch die widerspenstigsten Bauern mussten sich fügen. Wer nicht wollte, dem wurde der Trotzkopf mit polizeilicher Gewalt gebrochen.
Als nach einem Jahr die Pläne auflagen, waren die Gegner nur noch von unbedeutender Zahl und vermochten keinen Einfluss auszuüben. Karli Martin und einige Kleinbauern waren die einzigen, die die Bahn als Landesunglück verfluchten. Alexander hatte recht behalten ...
Es war der erste Sonntag im Mai. Ein sonniger Frühlingsmorgen lag über dem Tal. Die Landstrasse belebte sich zusehends. Aus den höchsten Bergen kamen die Bauern, alte, graue Männer und kraftstrotzende Jünglinge, um an die Landsgemeinde zu gehen.
Punkt zwölf Uhr versammelten sich in Altdorf beim Türmli der Landammann, die Regierungsräte und viel Volk. Unter den Klängen der Musik zogen sie hinaus auf die kleine Wiese zu Bötzlingen. Stolz schritten die zwei grössten Männer in der heraldischen Tracht in schwarzgelb dem Zuge voran. Der Ernst der Stunde war in die Gesichter der Männer geschrieben. Die Pflicht des Bürgers war ihnen heilig.
Der Landammann und der Schreiber nahmen mitten im Ring Platz. Würdevoll bezogen die Weibel ihren Sitz. Nach dem üblichen Gebet eröffnete der Landammann die Gemeinde. Nach einem kurzen Rück- und Ausblick, in dem Alexander auf die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres hinwies und eine Prognose für das laufende stellte, ging er zur Behandlung der ordentlichen Traktanden über. Ohne Opposition gingen die Wahlen vor sich. Nur die tiefe Stimme des Landweibels durchbrach dann und wann die Stille. „Glück und Heil zu einer weiteren Amtsdauer! Was gefällt dem hoch geachteten Landammann?“
Erst beim letzten Traktandum, „Bau und Subvention der Gotthardbahn“, kam Leben in den Ring.
„Treue liebe Landsleute!“ fing Alexander zu reden an. In klaren, verständlichen Worten empfahl er dem Volk das Projekt für den Bahnbau und die Subventionierung. „Wer seine Heimat lieb hat“, schloss Alexander seine Rede, „und wem das Wohl des Volkes am Herzen liegt, der stimmt für den Antrag der Regierung und des hohen Rates, die nach reiflicher Überlegung dem Volk die Vorlage zur Annahme empfehlen.“
Dumpf und düster tönten die Worte des Weibels durch den Ring: „Will das Wort noch weiter verlangt werden?“
Karli Martin sass in der vordersten Reihe. Schweiss rann über seine Stirne. Noch einmal trugen ihn die Gedanken hinaus auf den See. Seine Heimat war der See. Und nun sollte er ihm entrissen werden. Drunten am Ufer sollte sein Schiff vermodern ...
Langsam erhob sich Karli Martin und streckte die Hand zum Zeichen, dass er sich zum Wort melde. Er wischte den Schweiss von der Stirne und überschaute den Ring. Alexander erteilte ihm das Wort, und er begann:
„Was in unserem Tal vorgeht, können wir nicht so mir nichts, dir nichts hinnehmen. Das, was wir heute zu entscheiden haben, ist von unendlicher Bedeutung, nicht nur für uns, die wir hier versammelt sind, sondern für alle, die nach uns kommen. Von dem, was wir heute beschliessen, hängt das Schicksal unserer Kinder und Kindeskinder ab. Die Regierung und die Anhänger der Bahn sprechen von einem wirtschaftlichen Aufschwung, Wer bürgt uns aber heute für diese Behauptung? Die Männer, die dem Volke die Bahn und die Subventionierung zur Annahme empfehlen, sind vom fremden Einfluss geblendet. Um einige Franken wird den Bauern das beste und schönste Land weggenommen. Die Bahn wird das Tal verunstalten und dem Volke Ruhe und Einigkeit rauben.
Ich frage euch, was sollen wir Seemänner anfangen, wenn alles mit der Bahn befördert wird? Sollen wir im eigenen Land verhungern? Und ihr alten Fuhrknechte, auch euch ist kein besseres Los beschieden. Sind wir nicht schon arm genug, ohne dass wir dieses fremde Unternehmen mit einer Million ünterstützen?“
Drohend erhob Karli Martin die Hand. „Liebe Mitbürger“, rief er aus vollen Kräften, und zeigte mit der Hand auf die Berge, „schaut hinauf zu den Bergen eurer Heimat, schaut über die Wiesen und Matten! Wenn wir auch von Gefahren umgeben sind, nie und nimmer wollen wir unsere Heimat an Fremde verschachern. Die Bahn wird uns kein Glück bringen. Darum stimmen wir gegen den Antrag der Regierung. Bachab mit der Bahn samt der Subvention!“
Karli Martin setzte sich. Ein Murren ging durch den Ring. Die Bauern steckten die Köpfe zusammen. Hatte er vielleicht doch Recht, der Karli Martin?
Aber bevor die Versammelten recht zu Gedanken kamen, fuhr die Stimme des Landweibels wie eine geheimnisvolle Mahnung in die Stille: „Was gefällt dem hoch geachteten Landammann?“
Lächelnd erhob sich Alexander vom Stuhl. Er drehte sich nach allen Seiten und überblickte den Ring. Alles war ruhig. Die grosse Gestalt des Staatsmannes schien eine geheimnisvolle Macht auszuüben. Wie von einer unsichtbaren Kraft gebannt blickten die Männer zu ihm auf.
„Treue liebe Landsleute!“ begann er wieder mit gewohnter Ruhe. „Ich bedaure die Ausführungen von Karli Martin. Aber ich mache ihm keine Vorwürfe, denn ich bin überzeugt, dass auch Karli Martin nur das Gute wünscht für das Volk unserer lieben Heimat. Ich kann die Männer verstehen, die heute noch Angst haben vor dem technischen Fortschritt. Jeder Neuerung schaut man mit grossem Misstrauen entgegen. So war es früher, und so wird es noch lange bleiben. Auch die alten Säumer hatten Angst um ihre Existenz, als es hiess, es werde eine Fahrstrasse über den Berg gebaut. Und so ist es auch mit der Bahn. Das Ungewisse gibt uns zu denken und sicher mit Recht. Ich will auch gar nicht behaupten, dass uns die Bahn keine Enttäuschungen bringen wird.“
„Treue liebe Landsleute!“ tönte seine Stimme mit väterlicher Milde durch den Ring. „Es ist meine Pflicht, euch auf die grosse Bedeutung der Sache, über die wir heute zu entscheiden haben, aufmerksam zu machen. Wir müssen uns mit der Zeit abfinden. Wenn wir unser Tal dem öffentlichen Verkehr verschliessen, dann sind wir ein armes Volk, und unsere Kinder werden gezwungen, die Heimat zu verlassen. Wem die Heimat und das Volk lieb ist, der stimmt für den Antrag der Regierung, und wir können mit Freude in die Zukunft blicken. Unsere Söhne werden stolz sein auf das Werk ihrer Väter!“
Mit freundlichem Lächeln überschaute Alexander den Ring. In Gedanken versunken schauten die vom Ernst des Lebens gekenntzeichneten Männer zum Landammann. Und wieder erhob sich der Weibel.
„Will das Wort noch weiter verlangt werden?“ fragte Alexander und drehte sich nach allen Seiten.
Karli Martin zuckte es in den Fingern, aber er brachte die Hand nicht mehr in die Höhe, um noch einmal das Wort zu verlangen. Bevor er sich richtig fassen konnte, ertönten die Worte des Landammanns: „Wem es also wohl gefällt, dass die Vorlage für den Bahnbau und die Subventionierung angenommen werde, der beliebe es mit der Hand zu bezeugen.“
Tausend schwielige Hände fuhren in die Luft. Viele reichten nicht über die Köpfe hinaus. Ein Zittern ging durch ihre Finger. Es zuckte in den Armen. Für den Gegenantrag erhoben sich nur einige Hände …
Alexander dankte dem Volk. Unter lautem Reden leerte sich der Ring. Karli Martin wischte noch einmal den Schweiss von der Stirne. Er war einer der letzten, die den Ring verliessen. Die Musik spielte, aber er hörte nichts. Es summte in seinen Ohren. Er hatte sich verrechnet. Kein Einziger hatte sich zum Wort gemeldet, um seinen Antrag zu unterstützen. Alle hatten geschwiegen, der Bärenwirt, der sonst immer etwas zu gifteln hatte. Ja sogar der alte, händelsüchtige Mieseler hatte kein Wort gesagt. Das schmerzte ihn und gab ihm zu denken …
Karli Martin mied die Landstrasse und die Menschen. Bald verschwand er im Wald, der sich an die Schattdorfberge lehnte. Ein steiniger Weg führte über kleine Schluchten an Felsen vorbei. Hinter diesem lag das Schächental. Der Wildbach rauschte. Unter ihm lag Altdorf, der Hauptort des Tales. Er sah die hohen Türme der Kirche und die rötlich bemalte Fassade des Türmli. Da und dort flatterte eine Fahne. Trommelschläge wirbelten durch die Luft.
Im Wald war es still, vom Zwitschern eines Vogels abgesehen. Die Ruhe tat Karli Martin wohl. Unter dem Rabenschnabel, wo eine grasbewachsene Halde sich zwischen zwei Wäldchen abzeichnet, setzte er sich. Unter ihm war das Tal, die weisse Landstrasse, die Reuss, deren Gletscherwasser wie Milch in den See floss. Er betrachtete die blaue Wasserfläche. Graue Felsen umrahmten den See. Ohne sich zu rühren starrte er in die Tiefe. Den See konnten sie ihm nicht nehmen. Darüber hatte ein anderer zu befehlen, der stärker war als die Regierung und die Bahngesellschaft. Karli Martin hob seufzend die Augen. Die Abendsonne färbte die Gletscher. Die modernen Ideen hatten sein Glück zertrümmert und ihm seinen Sohn geraubt …
„Die Regierung hatte leichtes Spiel“, brummte Karli Martin, als er wieder ins Tal hinab schaute. „Wem gehören das steinige Land und die alten, verwetterten Häuser? Den Bauern, heisst es. Das ist gelogen. Den Gläubigern gehört es. Wer das Geld nicht aufbringt, um die Zinsen zu bezahlen, wird von Haus und Heim verjagt. Das macht die Bauern gefügig und stopft ihnen den Mund.“
Die Bauern liebten die Freiheit und die Rechte der Korporation, das wusste auch Karli Martin, aber die Schulden machten sie zu einem gefügigen Werkzeug von Alexander und seinem Anhang. Schon manchem Bauer hatte der Landammann aus der grössten Not geholfen. Ohne seinen Beistand wären viele Gütchen versteigert und Eltern und Kinder von ihrer Scholle vertrieben worden. Diese von Mühe und Arbeit gebückten Männer mussten sich dem Willen der Gläubiger fügen. Und sie fügten sich, denn sie liebten das bisschen Erde, auf dem sie ihr dürftiges Dasein fristeten.
Karli Martin erhob sich. Mit langen, schweren Schritten ging er über den steinigen Weg, der zu seinem Häuschen führte.

9.

Gleich nach der Landsgemeinde herrschte im Hauptort des Tales aufgeregtes Durcheinander. Die Wirtschaften waren überfüllt. Aus den offenen Fenstern tönte lautes Reden und dann und wann ein Schrei einer Handharmonika. Knochige Hände schlugen auf die Tische. Die Zungen hatten sich gelöst. Wie ein Dolchstoss fuhr hin und wieder ein giftiges Lachen in den Lärm. Jetzt freuten sie sich über Karli Martin, dass er sich getraut hatte, zu reden …
Im „Bären“ sassen der Landammann, die Regierungsräte und einige Ratsherren in gehobener Stimmung. Als ob es schon immer so gewesen wäre, lachte Alexander Anderfluh mit dem Bärenwirt über die glücklich verlaufene Landsgemeinde. Der alte Hass schien vergessen. Nur Kaspar Imholz sass in eine Zeitung vertieft in einer Ecke. Er legte die Zeitung weg und beobachtete die beiden. „Ihr Heuchler!“ sagte Kaspar zu sich. „Nur der persönliche Ehrgeiz trennt euch.“
Unbemerkt verliess Kaspar die Gaststube. Auf der Strasse blieb er stehen. Die Nacht war schön. Dunkelheit füllte das Tal. Über den Bergen leuchtete ein Meer von Sternen. Vor ihm erhob sich das Telldenkmal. Gross und mächtig erschien die weisse Gestalt des Freiheitskämpfers in der Nacht. In den Strassen war es ruhig, nur aus der Wirtschaft auf dem Lehn vernahm man noch lautes Reden. Die Bauern aus dem Schächental sassen um die halbleeren Kaffeekrüge. Kummer und Sorgen waren vergessen.
Was hatten sie sonst vom Leben? Nach der Landsgemeinde werden sie mit dem Vieh auf die Alpen ziehen. Der Weg führt sie über steinige Halden bis an die Gletscher. Den ganzen Sommer verbringen sie dort oben. Sonne, Wind und Regen gerbt ihre Haut. Erst nach Michaeli ziehen sie wieder mit dem Vieh hinab an den Schächen. Dann gönnen sie sich einen Sonntag, die Älplerkilbi, das Fest der Sennen. Das ist alles, was ihnen das Leben an Freude gibt. Aber sie sind zufrieden, wenn auch in ihren Gesichtern die Härte des Lebens tiefe Furchen gezogen hat. Der Gottesglaube gibt ihnen die Kraft, all die Mühen, die das Leben an sie stellt, mutig zu tragen. Nur das Fremde ist ihnen verhasst. Mit einer abergläubischen Furcht weisen sie jede Neuerung von sich. Aber den Worten des Landammanns konnten sie nicht widerstehen, wenn er sie mit seinem väterlichen Blick anschaute. So war es auch heute gewesen. Ohne dass sie wussten warum, hatten sie die Hände für den Bahnbau erhoben …
Vor den Fenstern der Wirtschaft blieb Kaspar stehen. Die Stimmen waren ihm bekannt. Es waren seine Schulkollegen. Lange hatte er diese Stimmen nicht mehr gehört. Nach kurzem Besinnen stiess er die Türe auf. Der Lärm verstummte. „Kaspar!“ tönte es von allen Seiten. „Hock ab, du alter Geissbub“, lachte der eine. „Du hast dich nicht zu schämen. Wir sind noch die Selben.“
„Natürlich sind wir noch die Selben“, erwiderte Kaspar und reichte allen die Hand. Er setzte sich an den Tisch. Es wurde angestossen auf die freundschaftliche Treue. Die Bauern bestürmten Kaspar mit Fragen. Er musste ihnen erzählen, was er von der Bahn halte. Sie hörten ihm zu und freuten sich, den einstigen Geisshirten vom Clariden in ihrer Mitte zu haben.

10.

Eine stürmische Zeit begann. Viel fremdes Volk kam ins Tal. Unternehmer, Bauleiter, Ingenieure und ganze Scharen Italiener bevölkerten das enge Tal. Baracken wurden aufgestellt. In den Bauernhäusern wurde jedes freie Bett vermietet. Die Fuhrhalter und Seeleute wurden mit Aufträgen überhäuft. Tag und Nacht wurde gearbeitet. Karli Martin machte mit seinem Nauen keine einzige Fahrt für die Unternehmer der Bahn. Lieber wäre er verhungert.
Seine Frau versuchte ihn umzustimmen. „Auch für mich wird das Leben immer schwerer“, jammerte sie. „Wir werden älter und man weiß nie, wann der letzte Tag gekommen ist. Haben wir nicht schon genug Kummer? Und was ist mit Franzsepp, dem armen Bub? Es ist nicht recht, dass du ihn aus dem Haus gejagt hast. Vielleicht werden wir noch einmal froh sein um ihn …“
Aber weder ihre gut gemeinten Worte, noch ihre Tränen vermochten Karli Martin umzustimmen. „Annemarie“, sagte er nach einer Weile, „deine Mühe ist umsonst, lass mich in Ruhe. Die Bahn ist und bleibt mein Feind, und wenn die ganze Talschaft gegen mich ist. Franzsepp wollte es ja so haben, nun soll er die Folgen tragen. Glaubst du etwa, ich falle vor diesen Herren auf die Knie, oder ich lasse mir von der Regierung vorschreiben, was ich zu tun habe? Es ist traurig genug, wenn die armen Schuldenbauern sich nicht getrauen, zu ihrer Meinung zu stehen, weil sie Angst haben, sie könnten um ihre steinigen Gütchen kommen. Wenn es einmal nicht mehr zum Leben reicht, kannst du dich bei den grossartigen Herren bedanken. Aber mich lasse in Ruhe!“
Ganze Nächte konnte er nicht schlafen. Oft stand er auf, ging ans Fenster und schaute hinab auf den See. Manchmal kleidete er sich an und lief an die Schiffslände, wo der Nachtwind seinen Nauen hin und her wiegte. Wie klagende Stimmen tönte das Plätschern der Wellen und wie Seufzer das trockene Gieren, das die Nauen mit ihrem Schaukeln den Pfählen entlockten. Karli Martin setzte sich dann ans Ufer, stemmte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. Erst wenn die Morgendämmerung den schwarzen Schleier der Nacht langsam von dem See hob, erwachte er aus dem trüben Nachsinnen. Traurig ging er dann über den schmalen Steg und verschwand im alten Nauen. Im engen Maschinenraum zündete er die rostige Laterne an. Aus einem Schrank holte er die Schnapsflasche und nahm einen tiefen Schluck.
Wenn die Helle des Morgens den See streifte, kam ein alter, lahmer Mann auf den Nauen. Karli Martin reichte ihm als erstes die Schnapsflasche. Mit zitternden Händen führte der Alte die Flasche an den Mund. Der „Fischreigel“, wie der Alte genannt wurde, hatte einen guten Schluck und sog das letzte Tröpfchen aus dem Schnurrbart. Karli Martin hatte den alten Seegusler gedungen, nachdem er Franzsepp aus dem Haus gejagt hatte. Der von Gicht und Rheumatismus geplagte „Fischreigel“ war zwar zu nicht mehr viel anderem zu gebrauchen, als am Steuer zu stehen, aber die fünfzig Rappen und einen Schluck Schnaps verdiente er. Bei Nacht und Nebel konnte sich Karli Martin auf ihn verlassen. Er kannte den See. Seinen kleinen Augen mit dem misstrauischen, lauernden Blick entging nichts. Am Wellengang, an jedem Luftzug und an den Strömungen konnte er fast auf den Meter genau sagen, wo sie waren, wenn sie in einer pechschwarzen Gewitternacht mit dem Sturm kämpften, oder wenn der Nebel grau und schmutzig den Nauen vor ihren Augen verschluckte. Den Namen „Fischreigel“ hatte er nicht umsonst. Wie ein Habicht, der auf Beute lauert, stand er am Steuer und streckte seine Nase in den Wind.
Aber nicht nur wegen diesen Eigenschaften liebte ihn Karli Martin. Wenn sie bei ruhigem Wetter auf der Bank neben dem Steuer hockten und der „Fischreigel“ den modernen Geist und die Bahn in Grund und Boden verfluchte, dann konnte Karli Martin vergessen. Mit vereinten Kräften hielten sie zusammen und wussten sich als zwei Menschen, die das Schicksal vereinte. Sie fühlten sich stark und trotzten der ganzen Welt.
11.

Roni und Palini hatten die Ausbesserung der Strasse über den Berg beendet. In Göschenen hatte Favre mit dem Durchstich des grossen Tunnels begonnen. Im ganzen Tal wurde fieberhaft an der Bahnstrecke gearbeitet. Roni und Palini hatten den Bau von Göschenen talwärts bis zum Pfaffensprung übernommen. An drei verschiedenen Orten hatten sie mit der Arbeit angefangen. Bretterhütten und Baracken reihten sich auf den Bauplätzen zu kleinen Dörfern, in denen nachts nur einige Stunden Ruhe einkehrte.
Im Wald bei Wassen, wo der Gornerbach schäumend in die Reuss fliesst, ging Franzsepp auf die Hütte zu. Er hatte es nicht eilig. Dann und wann blieb er stehen und schaute hinab ins Tal. Wie eine mächtige Pyramide erhob die grosse Windgälle ihr kahles Haupt, das von der Abendsonne vergoldet wurde. Das Heimweh regte sich in ihm, und die Gedanken trugen ihn hinunter an den See. Es war ihm, als hörte er das Plätschern der Wellen und die Stimme des Windes, der durch das dürre Schilf fuhr. Eine Träne rann über seine Wange. Dort unten war seine Heimat, die er verloren hatte. Er wandte sich schnell um und fuhr mit der Hand über die Augen. Mit schweren Schritten ging er weiter. Nicht die Arbeit war es, die ihn müde machte, sondern die Umstände, unter denen er Tag für Tag leben musste.
Am Morgen, bevor die Helle des Tages über die Berge kam, begann schon das Elend. In der öden, schlecht erhellten Baracke ging es an ein Schimpfen und Fluchen. Die einen lärmten über den schlechten Kaffee und die andern über den ebenfalls schlechten Schnaps. Wie der Morgen anfing, so endete der Abend.
Von solchen Betrachtungen gefangen erreichte er die Hütte. Diana stand vor der Türe. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Aus ihren schwarzen Augen leuchtete ein Gemisch von Wehmut und Freude, als ihr Franzsepp guten Abend wünschte. Fragend schaute er dem Mädchen in die Augen. Diana zog die Türe ins Schloss. Leise sagte sie: „Warte mir heute Nacht bei der Kappelle im Wald.“ Sie legte einen Finger an den Mund zum Zeichen, dass er nichts verraten solle.
„Ja“, flüsterte er ihr ins Ohr, ohne recht zu wissen, was er sagte. Eilig schlüpfte Diana durch die Türe. Franzsepp ging den Weg zurück, den er soeben gekommen war. Fragen drängten sich ihm auf. Warum wollte ihn Diana heute Nacht treffen? Schon droben in Göschenen hatte er hie und da mit ihr geplaudert. Seit dem ersten Abend, als er das Mädchen gesehen hatte, empfand er etwas, das er sonst nicht gekannt hatte. Zuerst glaubte er, es sei Mitleid mit dem blassen Mädchen, in dessen Augen ein tiefes Weh und eine kindliche Bitte lagen. Aber die schwarzen Augen, aus denen eine schüchterne Unschuld sprach, gruben sich immer tiefer in seine Sinne. Schon mehr als einmal hatte ihn der Vorarbeiter dabei ertappt, als er sich auf seine Schaufel stützte, wenn ihn die Gedanken zu dem bleichen, schwarzen Mädchen zurücktrugen. Heute wollte Diana ihn treffen, ganz alleine, in finsterer Nacht.
Er liess etwas Zeit verstreichen, dann ging er wieder auf die Hütte zu und betrat sie. Am ersten Tisch neben der Türe nahm er Platz. Diana brachte ihm die Suppe und ein Stück Brot. Das Mädchen war noch blasser als sonst und getraute sich kaum, ihn anzuschauen. Diana zitterte, als sie den Betrag in das Schuldenbüchlein eintrug und es Franzsepp neben den Teller legte.
In der Baracke wurde es finster. Der Lärm hatte nachgelassen. Diana zündete die Lampe an. Tabakrauch strich um das gelbliche Licht. Franzsepp hob den Kopf und überblickte den Raum. Da waren Männer, die er zum ersten Mal sah. Andere, die gestern noch da gewesen waren, vermisste er. So geschah es nach jedem Zahltag. Viele von den Arbeitern nahmen den Sack mit den Kleidern auf den Rücken und zogen gegen Norden durch das Tal. Enttäuscht stampften sie über die staubige Strasse, arm wie sie gekommen waren. Am andern Tag begann für sie dasselbe Elend bei einer anderen Firma. Und über den Berg kamen jeden Tag neue Arbeitssuchende.
Zuhinterst, wo das Licht kaum hinreichte, sass der schwarze Neapolitaner und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Hass sprach aus seinen Augen. Auf einmal sprang er auf und fluchte. Keinen Rappen habe er am Zahltag bekommen. „Sklaven sind wir, Galeerensträflinge! Nicht einmal zu einer Flasche Bier reicht es“, lärmte er und rammte das Messer in den Tisch.
Franzsepp stand auf und verliess die Hütte. Langsam ging er dem Bach entlang, an dem der Weg hinaufführte zur St. Antonius Kappelle. Immer musste er an die Worte des Neapolitaners denken. Hatte er nicht Recht? Sie waren Sklaven, aber nicht nur der Unternehmer, sondern auch ihrer eigenen Leidenschaft. War es noch nicht genug, wenn Roni und Palini ihnen für das elende Essen fast mehr verlangten, als sie ausbezahlten? Mussten sie jeden Abend die paar Rappen, die ihnen noch übrig blieben, versaufen?
Franzsepp kannte das Leben der armen Italiener. Er konnte sie begreifen, dass sie versuchten, für einige Stunden ihr Elend zu vergessen. Sie hatten kein Heim. Niemand tröstete sie, wenn sie voll Sehnsucht in die dunkle Nacht hinaus starrten. In der schmalen Bretterhütte, wo sie schliefen, gab es keinen Tisch und keine Stühle. Eine Tunnellampe flackerte geisterhaft durch das öde Nachtlager. Durch die Ritzen blies der Wind. Schulter an Schulter legten sich die Arbeiter jeden Abend auf das alte, staubige Heu. Der Geruch von Schweiss und nassen Kleidern hing in der Luft.
Solchen und ähnlichen Betrachtungen konnte sich Franzsepp nicht widersetzen. Sie hängten sich wie Blei an seine Glieder. Bei jedem Schritt blieb er stehen. Leise murmelte das Bächlein, aber er hörte nichts von diesem Gesang. Erst als der Schein der Lampe durch die trüben Fenster der Kappelle etwas Licht vor seine Füsse warf, erwachte er aus seinen Grübeleien. Unter dem Vordach setzte er sich auf die Bank. Die Stille ergriff ihn. Etwas Sonderbares schlich sich nach seinem Herzen. Es war das erste Mal, dass er auf ein Mädchen wartete.
In der Baracke wurde die Türe zugeschlagen. Ein italienisches Lied drang aus dem Lokal. Franzsepp horchte. Von weit her hörte er Schritte, das Aufschlagen von Zoccoli über den steinigen Weg. Die Töne waren Franzsepp bekannt. Über dem Lichtstreifen vor der Kappelle huschte ein Schatten. Zwei Hände tasteten nach ihm. Heisser Atem streifte seine Wangen.
„Franzsepp“, „Diana“, flüsterten sie.
Das Mädchen setzte sich neben ihn. „Du, der Schwarze weiß alles“, sagte sie leise und schmiegte sich an ihn. „Ich musste es dir sagen, sonst gibt es ein Unglück.“ Und sie erzählte ihm von der Eifersucht des Italieners.
Franzsepp schlang den Arm um das Mädchen und versuchte sie zu trösten.
„Wir dürfen dem Schwarzen keinen Anlass zur Eifersucht mehr geben“, sagte Diana bittend. „Warte mir jeden Donnerstag hier an diesem stillen Ort. Wenn der Lärm in der Baracke verstummt und das letzte Licht ausgeblasen ist, komme ich zu dir.“ Weiter konnte das Mädchen nicht sprechen. Franzsepp drückte den Mund auf ihre Lippen.
In der Kappelle tanzte eine Schar Mücken um das schwache Licht. Wie eine zarte Hand fuhr der Nachtwind über die Äste der Tannen.
12.

Der Landammann hatte seinen Schwager, auf den er so grosse Hoffnungen gesetzt hatte, von einer Stunde auf die andere aus dem Haus gejagt. Albertina sass neben ihrem Mann. Traurig starrte sie ins Nichts. Alles hatte sie getan, um eine Versöhnung der beiden Männer herbeizuführen. Aber beide versteiften sich auf ihre eigenen Ansichten, auf ihre Grundsätze, wie sie sagten. Alexander pochte auf seine Macht. Nach dem Glauben und nach den Sitten seiner Väter wollte er das Volk regieren. Bis heute hatte es treu zu ihm gehalten, und er war der Überzeugung, dass es immer so bleiben würde. Er wollte ja nur das Beste, das Volk vor dem fremden Geist bewahren. Er hielt es für seine Pflicht, die Ideen seines Schwagers mit allen Mitteln zu bekämpfen.
„Ich ahne nichts Gutes“, sagte Albertina, als Alexander die gelesenen Briefe zur Seite legte. „Mein Bruder hat einen harten Kopf. War es nicht unüberlegt, ihn aus dem Haus zu weisen? Ist das nicht Wasser auf seine Mühle? Gab es gar keine Möglichkeit zu einer Verständigung?“
„Dein Bruder will den Kampf, nun soll er ihn haben. Eine Verständigung, oder wie man sagt, ein Kompromiss, das wäre eine Schwäche. Vorläufig regiere noch ich. Auch für den Nachfolger habe ich gesorgt, bis wieder ein Anderfluh die Geschicke des Volkes in die Hände nimmt. Nie wird es dazu kommen, dass einer dieser Sorte über das Volk meiner Heimat befielt.“
Albertina schwieg. Fragen drängten sich ihr auf, Fragen die sie erst in letzter Zeit beunruhigten. Weltanschauliche Meinungsverschiedenheiten machten ihren Mann und ihren Bruder zu unversöhnlichen Feinden. Dieser unliebsame Zwischenfall kam so unerwartet, dass er ihr mehr Kummer bereitete, als sie bereit war, zu zeigen. Bis vor kurzem wusste sie nichts von solchen Sorgen. Alexander sagte Ja oder Nein. Niemand widersprach ihm. Keine Stimme erhob sich gegen seine Anträge und Verfügungen. Und nun hatte sich ihr Bruder gegen ihn aufgelehnt. Albertina vermochte dies kaum zu fassen.
Und doch regte sich in ihr eine Stimme, die ihr sagte, dass die Schuld nicht allein bei ihrem Bruder sei. Wer es aufrichtig meinte, konnte nicht behaupten, dass es ein Unrecht war, eine andere Meinung zu haben als die Regierung. Aber trotzdem bedauerte sie es, und es lastete schwer auf ihr, dass ihr Bruder nicht auf ihre gut gemeinten Worte gehört hatte und sich dem Willen des Landammanns gefügt hatte.
Alexander lächelte. „Plage dich nicht mit unnützen Sorgen“, tröstete er seine Frau. Der Landammann war sich seiner Sache sicher. Er würde ihnen die Stirne bieten, dem Bärenwirt, dem Mieseler und auch Kaspar Imholz. Die Bauern hatte er auf seiner Seite. Auf die konnte er sich verlassen, denn er kam ihnen entgegen, wo er nur konnte. Und was er von ihnen verlangte, war nicht viel, einzig dass sie an der Landsgemeinde für seine Anträge die Hände in die Höhe streckten. Sie taten es auch, wenn auch nicht mehr so freudig wie früher.
Nur die Wahl seines Nachfolgers trübte Alexanders Gedanken. Es schmerzte ihn, sein Amt einem Aussergemeindler abzutreten. Aber das Opfer musste gebracht werden, denn es fehlte im Hauptort an geeigneten Männern. Droben am Mittagsstock war ein junger, intelligenter Mann, den hatte Alexander zu seinem Nachfolger bestimmt. Albin Zurbrüggen liebäugelte zwar schon längere Zeit mit der neuen Geistesrichtung, aber der Landammann wusste ihn für sich zu gewinnen. Alexander hatte alles klug vorbereitet. Sein Plan musste aufgehen, daran zweifelte er keinen Augenblick.

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Für Kaspar Imholz begann eine schwere Zeit. In einem finsteren Lokal in der oberen Höllgasse hatte er sich eingerichtet. Die Höllgasse, in der Kaspar sein Anwalts- und Sachwalterbüro hatte, war den ganzen Tag menschenleer. Nur die schweren Schläge aus der Hammerschmiede tönten dumpf durch die Stille. Wenige wagten es, bei ihm Rat zu holen oder sich von ihm vor Gericht vertreten zu lassen. Oft glaubte er, es hätten sich alle gegen ihn verschworen. Wochen, Monate waren vergangen, und doch war es ihm, als würde die Zeit stillstehen. In der engen Gasse blieb sich das Leben gleich, aber durch das Tal bahnte sich das Neue mit gewaltigen Kräften den Weg.
Ein kalter Wind wirbelte die welken Blätter durch die Luft. Kaspar Imholz schaute ihnen nach. Ähnlich schien das Schicksal mit den Menschen zu spielen, so schien ihm. Aber auch Stürme vergehen. Alles hat seine Zeit. Nur nicht verzagen, sagte er sich. Kaspar glaubte an die Zukunft. Als Korrespondent einiger Tageszeitungen und als Bücherrevisor brachte er es nach und nach zu einem anständigen Erwerb. An den Nachmittagen, wenn die Sonne schien und er nichts zu tun hatte, setzte er sich ans Fenster. Von dort schaute er über leicht ansteigende Wiesen nach Bürglen. An den Abhängen, die sich an die steilen Berge anlehnten, gab es da und dort ein kleines Heimwesen. Auf einem solchen Bergheim hatte Kaspar seine Jugend verbracht. Aus eigener Erfahrung kannte er die Sorgen und Gefahren, mit denen diese Bauern zu kämpfen hatten. Aber trotzdem liebten sie ihre Heimat und hingen an ihrer Scholle. Das Lachen hatten sie zwar verlernt, aber auch die Tränen in ihren Augen waren versiegt. Sie waren wie die Berge, an denen Sturm und Wetter kaum eine Wirkung erzielen. Auch in ihm lebte diese Energie. Er hatte sie geerbt von seinen Vätern.
Der junge Anwalt wusste, was er sich aufgeladen hatte, als er sich getraute, eine eigene Meinung zu haben. Jeden Tag bekam er es zu spüren. Aber er blieb seiner Sache treu und schreckte nicht zurück vor den zahlreichen Hindernissen, die man ihm in den Weg legte. Er war ja nicht der erste, der für seine Idee und für seine geistige Einstellung zu büssen hatte.
Wild und aufgeregt tobte das Leben in dem sonst so stillen Tal. Gross waren die Anforderungen, die der Bahnbau an die Technik und an die Arbeiter stellte. Die Zukunft hatte das ganze Volk erfasst.

13.

Franzsepp schlief in jener Nacht, als er Diana bei der Kappelle getroffen hatte, nicht viel. Die Gedanken liessen ihn nicht zur Ruhe kommen. Zufrieden wie noch nie, seit er von zuhause fort gegangen war, stand er am Morgen auf. Ein Mensch, arm und verlassen wie er, hatte bei ihm Trost und Hilfe gesucht. Ein aufrichtiges Mädchen liebte ihn. Er war jetzt nicht mehr allein in diesem mühsamen Leben.
Als er sich am Brunnen vor dem Haus gewaschen hatte, ging er in die Baracke. Ohne Diana zu begrüssen, setzte er sich an den Tisch hinter der Türe. In der hintersten Ecke hockte der Neapolitaner, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. Die wilden Blicke trafen Franzsepp. Ohne aufzuschauen trank dieser seinen Kaffee und steckte das Stück Brot in die Tasche. Wortlos wie er gekommen, verliess er den Raum. Das süsse Geheimnis machte ihn froh.
Es war eine sternenklare Nacht, als sich Franzsepp am Donnerstag wieder vor der Kappelle auf die Bank setzte. Wieder tanzten die Mücken um die kleine Lampe. Er musste nicht lange auf Diana warten. Wie Kinder erzählten sie einander, was sie erlebt hatten.
Als Kind kam Diana mit ihren Eltern über den Gotthard. In der Schöllenen verunglückte ihr Vater, und ihre Mutter wurde beim Tanz aus Eifersucht erstochen. Palini, ihr Onkel, nahm sie zu sich. Er steckte sie in die Baracke, wo sie von morgens bis abends das rohe und ausgelassene Leben mitansehen musste. Im Dunste des Alkohols und im Schatten des Elends verbrachte sie die Tage ihrer Jugend.
„Seit der ersten Begegnung mit dir“, sagte sie leise und schmiegte sich fest an Franzsepp, „fühlte ich, dass es in meinem Herzen wärmer wurde. Auch in deinen Augen lag etwas Schmerzhaftes, das sich nach Liebe sehnte. Weinen könnte ich, nicht über mich, sondern über das Elend, das sich täglich vor meinen Augen abspielt. Beim Schnaps versuchen die Arbeiter für einige Stunden ihre Not zu vergessen. Meine Hände zittern, wenn ich am Abend ihre Trinkschulden ins Büchlein eintrage. Die traurigen Folgen bleiben nicht aus. An jedem Zahltag kommt es zu Streitigkeiten. Das Elend der einen ist der Profit der andern. Die Baracke sei eine Goldgrube, sagte vor ein paar Tagen Roni zu Palini. Es tut mir weh, das ansehen zu müssen und noch mitzuhelfen an dieser Ungerechtigkeit.
„Warum gehst du nicht fort?“ fragte Franzsepp und strich ihr mit der Hand über die Haare.
Traurig schaute Diana zu ihm auf. „Mehr als einmal bin ich schon davongelaufen“, erzählte sie weiter. „Tagelang streifte ich durch Wälder und legte mich abends müde unter eine Tanne. Aber immer hat man mich zurückgebracht in die finstere Baracke, da ich noch nicht volljährig bin. Aber einmal kommt der Tag, da wir uns nicht mehr verbergen müssen. Dann kannst du mich vor der Rohheit der Menschen schützen. Willst du …?“
„Für dich ist mir nichts zuviel“, bekräftigte Franzsepp mit einem Kuss. „Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Keine menschliche Macht vermag uns zu trennen. Die in Not geborene Liebe hält jeden Sturm aus. Sie ist in der Seele verankert. Nicht materielle Güter machen den Menschen glücklich, sondern der Friede im Herzen.“
Diana wischte eine Träne von den Augen. Zufrieden lehnte sie ihren Kopf an Franzsepps Brust. Sie fühlte sich geborgen. Lange hätte sie so verweilen wollen.
Die Nacht war ruhig. Als die dumpfen Schläge von der Kirche in Gurtnellen Mitternacht verkündeten, machten sie sich auf den Weg. Zwei aufrichtige Menschen hatten sich gefunden.

14.

Im Heitschachtobel, hoch über den Baracken, wo zerklüftete Felsen sich aus dem Wassenerwald erheben, kroch der schwarze Neapolitaner am Felsrand entlang. Der Boden war hart. Jeden Schritt sicherte er sich mit den schweren Schuhen. Mit den Händen kratzte er die Erde von den Wurzeln, um sich einen Halt zu geben. Hinter einer Tanne setzte er sich. Er strich die wilden Haare aus der Stirne und beschattete mit der Hand die Augen. Er sah die Reuss, die schäumend um die Granitblöcke gischtete, die weisse Strasse, die sich zwischen den Berghängen hindurch windet. Viel Volk stand um die Baracken. Die kamen ihm vor wie Ameisen aus dieser Distanz. Unter dem Felsen, wo der Weg über eine Steinhalde führt, bewegte sich etwas. Der Schwarze lachte. Das waren die Bauern, die sonst immer über die Unternehmer und die Bahn fluchten. Man hatte sie in Uniformen gesteckt und ihnen ein Gewehr in die Hand gedrückt, um das Recht zu schützen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das Recht war immer bei den Unternehmern. Die Bücher stimmten. Jedem Arbeiter wurde ausbezahlt, was ihm gehörte. Davon konnte sich jedermann überzeugen. Wer etwas anderes sagte, war im Unrecht. Trotzdem wurde die Unzufriedenheit unter den Arbeitern immer grösser. Bei jedem Zahltag musste die Bürgerwehr aufgeboten werden.
Es war am Nachmittag gewesen, als der Buchhalter mit einem misstrauischen Blick dem Italiener das fast leere Zahltags-Säcklein überreichte. Der Schwarze zerriss den Umschlag. Einige Nickelmünzen fielen auf den Boden. Er kippte vor Wut den Tisch um, stürzte sich auf den Buchhalter und warf ihn zu Boden. Mit den Schuhen bearbeitete er den fleischigen Körper. All dies ging sehr schnell. Als die Bauern zu den Gewehren griffen, war der Schwarze schon im Wald verschwunden. Schwerfällig, wie alte Bären, rannten die Soldaten, die in ihren Uniformen einen lächerlichen Eindruck machten, dem Italiener nach. Ein Schuss widerhallte an den Felsen, ein zweiter, dann war es still.
Jetzt war er frei. Die Aufregung hatte ihn ermüdet. Er lehnte sich zurück, hielt die Hände unter den Kopf und schaute hinauf zu den Gipfeln. „Diana“, kam es leise über seine Lippen. Dann schloss er seine Augen. Die Gedanken trugen ihn zurück nach Neapel, in die wunderbare Stadt am Meer.
Tagelang pflegte er am Meer zu sitzen. Das war eine schöne Zeit. Er lebte ohne viel zu arbeiten und ohne sich um den nächsten Tag zu kümmern wie ein echter Lazzaroni. Die Mädchen liefen ihm nach, dem schönen, verwegenen Francesco. Aber dann konnte ihn sein Schwager überreden, mit ihm zum St. Gotthard zu gehen, wo man am Bahnbau Geld verdiene wie Laub.
Spät am Abend, als die Nacht wie ein dunkles Meer aus dem Tal aufstieg, ging Francesco bei Wittenalp auf die Hütte zu. Er bat um etwas zu Essen und ein Nachtlogis. Der Senn musterte ihn mit einem misstrauischen Blick und fragte, wohin er wolle.
„Nach dem St. Gotthard“, gab Francesco zur Antwort. Der Senn schwieg und schöpfte in einen Topf „Vorbruch“. Hungrig machte sich der Italiener darüber her. Als er gegessen hatte, führte ihn der Senn in den Heugaden. Müde legte sich der Italiener auf das duftende Heu, um für einige Stunden das aufgeregte Leben zu vergessen.
Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch über den Bergen. Er hatte gut geschlafen, wie seit langem nicht mehr. Als er das Heu von den Kleidern und aus den Haaren geschüttelt hatte, stellte er sich unter das Tor. Nachdenklich schaute er in den schönen Sommermorgen. Ein herber Duft würzte die Luft. Francesco atmete erleichtert auf. Um seinen Mund spielte ein befriedigtes Lächeln.
Nach dem Frühstück zeigte ihm der Senn den Weg. Der Italiener dankte. Bald darauf verschwand er hinter dem Grat, wo der Weg zum St. Gotthard und nach Italien führt.

15.

Wovon das Talvolk kaum zu träumen gewagt hatte, war Tatsache geworden. Alexander Anderfluh hatte seine Demission als Landammann eingereicht. Als es langsam durchsickerte, wer als Nachfolger in Frage kam, war man im Hauptort nicht gerade erbaut. Es war ein harter Schlag, dass ein Aussergemeindler als Landammann über das Talvolk regieren sollte. Diese Herren, die an ihre vermeintliche aristokratische Herkunft glaubten, konnten es nicht fassen, dass mit der hundertjährigen Tradition gebrochen werden musste. Aber Alexander hatte seine Wahl getroffen. An diesem Entschluss liess sich nicht mehr rütteln.
An einem sonnigen Maisonntag wurde Albin Zurbrüggen zum Landammann gewählt. Für den Gegenkandidat, den Bärenwirt, erhoben sich nur wenige Hände. Mit ergreifenden Worten nahm Alexander als Landammann Abschied von dem Volk seiner lieben Heimat. Das Glück und der Segen Gottes möge immerdar über ihm ruhen, sagte er. Voll Hoffnung blicke er in die Zukunft, da er sein Amt in die Hände eines würdigen Nachfolgers gelegt habe.
Die Zukunft war gesichert. Alexanders Wünsche waren erfüllt. Und wieder hatte ihm das Volk die Treue gehalten.
Albin Zurbrüggen war ein energischer Mann. Seine grosse, magere Gestalt und sein bleiches Gesicht hatten etwas Asketisches an sich. Ehrgeiz sprach aus seinen schwarzen Augen. Etwas Stolzes lag in seinem Benehmen. Er hatte nicht das sympathische Lächeln Alexanders. Die Harmonie mit den Leuten fehlte ihm.
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Jahre waren vergangen. Eine unruhige, aufgeregte Zeit war verstrichen. In mächtigen Kurven schlängelte sich der Schienenstrang durch das Tal, über Schluchten, durch dunkle Tunnel, bis hinauf nach Göschenen, wo der lange Tunnel durch den Berg führt, um auf der anderen Seite dem sonnigen Süden zuzustreben.
Die Baracken wurden abgebrochen oder standen leer und zerfielen wie todmüde Geschöpfe neben dem Bahnkörper und erinnerten an die Geburtswehen einer neuen Zeit, dem Zeitalter der Technik.
Die braunen Söhne des Südens hatten das Tal verlassen. Nur wenige waren zurückgeblieben und hatten bei der Bahn als Angestellte Arbeit angenommen. Dafür kam von Norden her ein grosser Beamtenstab, geschultes Personal, das für den gesicherten, regelmässigen Bahnverkehr zu sorgen hatte. Viele von den Beamten belächelten die Manieren und die Weltanschauung der Einheimischen. Zwischen den Eisenbahnern und den Bauern bildete sich eine Kluft. Ein jeder sah im andern einen Gegner. Von den Einheimischen traten nur wenige in den Dienst der Bahn. Sie hatten den Widerwillen gegen das Neue noch nicht überwunden.
Es war am Sylvestertag, als die Glöcklein der blumengeschmückten Schlittenpost zur letzten Fahrt über den Berg durch das Tal ertönten. Mit Tränen in den Augen standen die Leute an der Strasse und schauten traurig der letzten Gotthardpost nach. Am Neujahrstag schnaubten die bekränzten Lokomotiven über den eisernen Strang.
Die weisse Strasse erschien jetzt leer und verlassen. Und drunten am See spielte der Wind mit den braunen, verwetterten Nauen. Viele junge Leute wanderten aus. In mancher Familie zog Not und Armut ein. Nur langsam vollzog sich die wirtschaftliche Neuerung im Bewusstsein des Volkes.

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Für Kaspar brachte die Bahn eine grössere Anzahl Anhänger und Sympathisanten. Schon längere Zeit trug er sich mit dem Gedanken, eine Waffe zu schaffen, um beim Volk für seine Idee zu werben. Zu diesem Zweck hatte er seine Freunde zu einer Beratung in den „Bären“ eingeladen. Es waren nicht viele, die seinem Rufe folgten, aber sie waren alle entschlossen, Kaspar in seinem Vorhaben zu unterstützen. Schon längere Zeit trug er sich mit dem Gedanken, eine Waffe zu schaffen, um beim Volk für seine Idee zu werben. Mit Begeisterung verpflichteten sie sich, ihr Möglichstes zu tun, galt es doch für ihr Recht und ihre Meinung einzustehen. So wurde in aller Stille die Herausgabe einer Wochenzeitung beschlossen. Kaspar Imholz wurde mit der Redaktion beauftragt. Nach einem Monat erschien die Zeitung unter dem Namen „Volksblatt“. Im Tal entstanden Parteien, die „Rechte“ und die „Linke“. Die letztere bestand zwar erst dem Namen nach, denn ein halbes Dutzend ist noch keine Partei.
Unaufhaltsam bahnte sich die neue Lebensweise ihren Weg. Hotels wurden gebaut. Eisenbahndörfer entstanden. Das Vorurteil gegen Eisenbahner verstummte teilweise, da immer mehr Bauernsöhne in den Bahndienst traten. Ein gewisses Misstrauen blieb jedoch bestehen.
Aber auch die rauchenden Lokomotiven vermochten die romantischen Erinnerungen an die alte, graue Landstrasse nicht auszulöschen. Wenn die Frühlingssonne den Schnee schmolz, sass da und dort ein alter Fuhrknecht vor seinem Haus und schaute mit halberloschenen Augen auf die Strasse. Wenn dann einmal ein Wagen über die Strasse rollte, die Hufe der Pferde hart aufschlugen und ein Peitschenknall ertönte, wischte manch einer eine Träne ab. Vergangene Tage zogen an ihnen vorbei. Sie wollten sie festhalten, die frohen Stunden, die sie erlebt hatten, als die Sonne die Berge im Abendlicht vergoldete, die Pferde übermütig die Köpfe schüttelten, mit weit geöffneten Nüstern die frische Alpenluft einatmeten und mit den Hufen kaum die Strasse berührten. Auch jene gefahrvollen Zeiten kamen ihnen in den Sinn, wenn ein Schneesturm sie in Bedrängnis brachte und sie es doch schafften, die nächste Station zu erreichen. So träumten die Alten von vergangenen Zeiten, während die Jungen vom Tempo der neuen Entwicklung fortgerissen wurden.

16.

Alexander ging aufgeregt in der Stube auf und ab. Vor dem Bild seines Vaters, einem grossen Ölgemälde, blieb er stehen. Es war ihm, als ob sich das Bild bewegen würde. Der frohe Blick verdüsterte sich, das Lächeln um den Mund verschwand. Lange betrachtete er das Bild. Was hatte das zu bedeuten? War es nur Einbildung? War es sein eigener Schmerz, seine eigene Trauer, die er im Bild zu sehen glaubte? Zornig umklammerte seine Hand das „Volksblatt“. Noch einmal warf er einen Blick auf die Schlagzeilen. Dann zerknüllte er das Papier, als könnte er damit den letzten Buchstaben austilgen.
„Auch das noch!“ seufzte er leise und setzte sich. Offen wurde hier die Regierung bekrittelt und bemängelt. Schwarz auf weiß konnte er es lesen. An so etwas hatte er nicht gedacht. Er wusste zwar, dass der Hass gegen die Bahn noch nicht erloschen war. Viele hatten ihren Verdienst verloren. Aber dass Kaspar und seine Anhänger versuchten, dies auszunützen und gegen die Regierung Sturm zu laufen, war einfach unglaublich.
Alexander hatte seine Ämter niedergelegt. Als geistiger Vater jedoch stand er der Landesbehörde immer noch mit Rat und Tat zur Verfügung. Mit kluger Berechnung nahm er jetzt den Kampf gegen die neue Zeitung auf. Jede Woche schrieb er einen Artikel für das „Wochenblatt“. Anhand von Beispielen aus seinen eigenen Erfahrungen wies er auf das gefährliche Treiben seiner Gegner hin.
Kaspar Imholz versuchte sich gegen diese Anschuldigungen im „Wochenblatt“ zu verteidigen. Und so ging der Kampf weiter, als ob das gegenseitige Heruntermachen eine vaterländische Tat wäre. Väter gegen Söhne und Brüder gegen Brüder stritten sich um ihre eigenen Ideen. Protektion, Hass und Unzufriedenheit nisteten sich ein. Das Bergvolk hatte seine Ruhe und Gelassenheit verloren. Über den Schienenstrang rollte unablässig der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung. Vieles kam unter die Räder und wurde zermalmt. Sitten und Bräuche, Menschen und Ideen …
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In Flüelen war es ruhiger geworden. Die Tore der Sust waren geschlossen. Vergessen und mit Staub bedeckt standen die gelben Postwagen in der Remise, und mit den verwetterten Nauen trieben die Wellen ihr Spiel.
An sonnigen Tagen, wenn ein warmer Wind die blaue Fläche des Sees leicht bewegte, hockten einige Seemänner und Fuhrknechte am morschen Landungssteg. Sie rauchten ihre Pfeifen und erzählten von alten, vergangenen Zeiten. Nur Karli Martin fehlte. Im Frühjahr hatte er seine Kameraden verlassen. Sie konnten es kaum glauben, aber eines Tages war er nicht mehr bei ihnen. Das kleine Gütchen droben am Rofaien vermochte ihn und seine Frau nicht mehr zu ernähren. Das Ersparte hatten sie bis auf den letzten Rappen aufgebraucht. Im Rauchfang hing kein Fleisch wie früher und der Keller war ein schwarzes, leeres Loch. Mit jedem Tag war die Not grösser geworden.
„Ins Armenhaus …? Nein! Lärmte Karli Martin. „Soweit bringen sie mich nicht. Lieber springe ich in den See …“
Traurig schaute Annemarie vor sich hin. Ganze Nächte hatte sie nicht geschlafen. Sie hatte zu Gott gebetet. Nur das nicht …, Karli Martin ein Selbstmörder! Schon lange hatte sie versucht, ihn umzustimmen. Sie wollte es noch einmal versuchen.
„Warum willst du nicht?“ fragte sie weinend.
„Was?“ schnauzte Karli Martin und spuckte verächtlich auf den Boden.
„Glaubst du, ich hätte alles vergessen?“
„Er meint es ja sicher gut mit uns. Gestern ist er wieder da gewesen. Willst du nicht zu ihm gehen?“ bat Annemarie. „Das ist keine Schande, er ist ja dein Sohn. Und deine Freiheit und den See hast du ja auch.“
Karli Martin starrte vor sich hin. In seinem Innern tobte ein Kampf, heftiger als die Stürme auf dem See. Heute zitterte er vor einem einzigen Wort. Ja, er war sein Sohn. Er hatte ihn aus dem Haus gejagt und ihn verflucht, dass er ihm nie wieder unter die Augen komme. Nun sollte er hingehen wie ein Bettler und um Brot und Verzeihung bitten? Soweit sollte er sich herablassen und demütigen? Er als der einzige, der an der Landsgemeinde das Wort gegen die Bahn ergriffen hatte. Gegen dieses Ansinnen bäumte er sich auf. Tagelang dauerte der seelische Kampf ... Dann hatte er sich endlich entschieden.
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Draussen am Axen, eine Stunde ausserhalb Flüelen, stand zwischen Sträuchern und astlosen Föhren ganz nahe an der Bahn ein kleines Wärterhaus. Eine blasse Frau mit schwarzen Haaren und Augen sass vor dem Häuschen, vertieft in eine Handarbeit. Neben ihr spielte ein etwa zwei Jahre altes Mädchen mit einer Puppe. Wenn das Glockensignal einen Zug ankündigte, stand die Frau auf, nahm die aufgerollte rote Flagge in die Hand und schloss die Schlagbäume. Diese Frau war das schwarze Mädchen aus der Baracke, Diana, Franzsepps Frau. Für seinen Fleiss und seine Zuverlässigkeit hatte Franzsepp die Stelle eines Streckenwärters erhalten, und seine Frau versah den Barrierendienst. Ein Familienleben von Liebe und Glück verband die beiden, deren Herzen sich in der Not gefunden hatten.
Nun war ihr Glück vollkommen. Karli Martin hatte sich mit seinem Sohn versöhnt. Der Hass, der ihnen das Leben zur Qual gemacht hatte, war vergessen. Franzsepp freute sich, seinen Eltern zu einem sorgenlosen Lebensabend zu verhelfen. Annemarie, die vom Alter gebückte Grossmutter, konnte es kaum glauben. Sie fühlte sich wieder jung, wenn ihr das kleine Mädchen mit den Händen liebkosend über die runzligen Wangen fuhr.
Vom Wärterhäuschen zog sich ein schmaler Streifen Land hinab zum See. In einer kleinen Bucht war ein Ruderboot verankert. An jedem sonnigen Tag fuhr Karli Martin mit dem Boot auf den See und warf die Netze zum Fischfang aus. Dann sass er wieder stundenlang am Ufer, rauchte sein Pfeifchen und horchte dem Plätschern der Wellen. Nun hatte er ihn wieder, den See, der ihm mehr bedeutete als Ansehen und Geld.
17.

Nachdenklich und blass sass Alexander Anderfluh am Fenster. Seit einigen Wochen war er krank. Ruhe müsse er haben, seine Nerven seien angegriffen, sagten die Ärzte. Die Frühlingssonne tat ihm wohl. Aber trotz der Sonne lag ein tiefer Schmerz auf seinem Gesicht. Das freundliche Lächeln war verschwunden. Kummerfalten zogen sich um seinen Mund. Nicht die körperlichen Leiden waren es, die ihn traurig stimmten. Es waren die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die so schwer auf seinem Herzen lasteten. Vieles war anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Sogar seine Söhne hatten sich von ihm abgewandt. Rudolf stand im Lager seiner Gegner und kämpfte mit Kaspar Imholz gegen seinen eigenen Vater. Werner verkümmerte im Schatten der Grossstadt.
Es waren schlechte Zeiten. Die Lebensmittel stiegen im Preis und Heu gab es fast keines zu kaufen. Die Hotels waren leer. Die Besitzer konnten die Zinsen nicht mehr bezahlen. Die Schulden und Lasten der Talschaft wurden immer grösser. Gerüchte zirkulierten, das Tal werde verlumpen. Misstrauen und Aufregung plagten das Volk. Man suchte nach Schuldigen …
„Ein krankhafter Fanatismus hat das Talvolk an den Abgrund gebracht“, schrieb das Volksblatt. Das war der Schmerz, der an Alexander nagte. Es stand wirklich schlimm, aber er wollte ausharren. Er fühlte noch eine geheime Kraft, durch seine Bereitschaft einen Druck auf die Bewegungen des öffentlichen Lebens auszuüben. Das Volk wird vergessen, so sagte er sich. Es hat auch sonst die Härte des Lebens ertragen und immer treu zur Regierung gehalten. So war es wenigstens, solange die Anderfluh regierten. Alexander hoffte, dass nun auch diese Krise überwunden werden konnte. Er hatte einen Aufruf an das Talvolk gerichtet und zu Ruhe und Besonnenheit gemahnt.
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Tage vergingen. Die Spannung wuchs. Wo zwei Leute zusammen standen, redeten sie über Schulden und Schuldige. Endlich kam der Tag der Entscheidung. Die Männer vom Tal wanderten hinaus nach Bötzlingen. Ohne viel zu reden gingen sie an die Landsgemeinde. Schulter an Schulter setzten sie sich an den Ring. Sie erhoben die Hände, um ihre Stimme abzugeben und ihren Willen zu bekunden.
Alexander sass am Fenster und beobachtete die Strasse. Ungeduldig wartete er auf den Landammann. Die Gedanken trugen ihn hinaus nach Bötzlingen. Er sah sich mitten im Ring, umgeben von den Männern seiner Heimat. Sein Herz pochte. Alexander fieberte. Jetzt hörte er die Klänge der Musik. Die Töne kamen näher. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Die Landsgemeinde war das Höchste, der schönste Tag des Jahres. Wenn er draussen stand im Ring und die Blicke der Männer sich an ihn hängten wie an einen guten Vater, dann war er überglücklich. Und heute sass er da, alt und müde und wartete mit Bangen, bis sie an ihm vorbeizogen und lachend grüssten, die Sieger über seine Gegner. Alexander glaubte an den Sieg.
Nun waren sie da. Stolz schritten die zwei grossen Männer in der heraldischen Tracht dem Zuge voran. Hart und schwer tönten ihre Schritte durch die enge Gasse. Ihnen folgte eine Abteilung Soldaten. Wie Donnerrollen wälzten sie sich der Strasse entlang.
Alexander erhob sich. Gespannt schaute er auf die Strasse. Jetzt kam die blumengeschmückte Droschke. Die Pferde schüttelten die Köpfe. Würdevoll sass der Feldweibel neben dem Kutscher. Der weisse Bart reichte ihm bis auf die Brust. Er schaute hinauf zu Alexander und nickte einen stummen Gruss.
Wer sass neben dem Landschreiber? Albin Zurbrüggen …? Alexander zitterte. Nein, er war es nicht ... Kaspar Imholz schaute hinauf zu Alexander. Ein Lächeln zog sich um seinen Mund. In seinem Herzen war kein Hass, aber eine unaussprechliche Freude über seinen Sieg. Es war ein harter Kampf gewesen. Eine Gesundung sei nur möglich, hatte Kaspar erklärt, wenn der Mensch nach seinen Fähigkeiten beurteilt werde und nicht nach seiner Parteizugehörigkeit. Kaspar Imholz war zum Landammann gewählt worden.
Alexander senkte den Kopf. Tränen rannen über seine Wangen. Das Volk hatte sich von ihm abgewandt. Er fühlte sich verlassen.
Die Klänge der Musik waren verstummt. Die Strasse war leer. Am Mittagstock glänzte die scheidende Sonne. Grübelnd betrachtete er die Berge und wischte die Tränen von den Augen. Immer hatte er gekämpft für die Idee seiner Väter. Nichts war ihm zuviel gewesen. Ganze Nächte hatte er gearbeitet, ohne nach Lohn zu fragen. Volk und Heimat hatte er geliebt. Nun lag sein Werk zertrümmert am Boden.

Ende

1 Kommentar:

  1. Diese Geschichte handelt von der Zeit, als die Gotthardbahn gebaut wurde und wie die Leute im Kanton URI auf dieses Projekt reagiert haben. Aber es beschreibt auch die misslichen Umstände der Tunnelarbeiter, die grösstenteils aus Italien stammten. Ein beinahe historischer Roman.

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